Abrahamsens „Schneekönigin“ an der Bayerischen Staatsoper
Hans Abrahamsens „Schneekönigin“ überzeugt in einer atmosphärisch dichten Produktion im Münchner Nationaltheater
München, 6. Januar 2020, Michael Bordt SJ
Christian Andersens Märchen “Die Schneekönigin” erzählt die Geschichte von Gerda und Kay, zwei miteinander eng befreundeten Kindern. Schreckliches passiert: Kay trifft die Schneekönigin, die sein Herz zu Eis werden lässt und den Erstarrten mit sich nimmt. Auf der Suche nach ihrem entführten Freund begegnen Gerda merkwürdige Menschen, Tiere und auch sprechende Pflanzen, die ihr auf Umwegen die Richtung zur Schneekönigin weisen. Bei ihr findet sie ihren Freund. Durch ihre Tränen wird er aus seiner Eiseskälte erlöst und aus der Gefangenschaft befreit.

Der norwegische Komponist Hans Abrahamsen hat sich der Vertonung dieses doch recht artifiziellen Märchens angenommen und eine gut zweistündige Oper komponiert, die als letzte Premiere des Jahres 2019 an der Bayerischen Staatsoper ihre englischsprachige Uraufführung feierte – mit Barbara Hannigan in der Rolle der Gerda, eine Rolle, die Abrahmsen eigens auf ihre Stimme hin komponiert hat. Der Komponist ist, gemeinsam mit Henrik Engelbrecht, auch für das Libretto verantwortlich. Die rätselhafte Handlung wird als Operntext noch rätselhafter und fragmentarischer. Es sind einzelne aneinandergereihte Szenen, denen die Stringenz einer dramatischen, schlüssigen Erzählung fehlt. So begegnet Gerda auf ihrem Weg einer alten Frau, die sie als Kind adoptieren möchte, einem Prinzen und einer Prinzessin, die sie nicht von dannen ziehen lassen wollen, Blumen, die ihr sagen, Kay sei nicht gestorben, Krähen, die ihr den Weg weisen.

Abrahamsen komponiert die unterschiedlichen Begegnungen als einzelne Szenen mit leicht unterschiedlichen Klangfarben und -spektren. Eine lange, abfallende, immer wiederkehrende Melodie in der Szene mit der alten Frau, eine aufsteigende in der Begegnung mit den Krähen, mehrstimmige, tonal konzipierte Frauenchöre bei ihrem Gespräch mit den Blumen usw. Abrahamsen kommt eigentlich von der Orchestermusik und nicht vom Gesang. Das merkt man seiner Partitur auch an. Der Klang des großen Orchesters mit viel Schlagwerk ist überaus farbig und fein. Der Grundduktus dieser Musik ist leise, poetisch und lyrisch, auch wenn das bestens disponierte Bayerische Staatsorchester unter der sehr sorgfältigen, hochmusikalischen und sensiblen Leitung von Cornelius Meister in den Orchesterzwischenspielen durchaus dramatische Steigerungen erzeugen kann. Mich erinnert die Musik an die vielen Formen von Schnee. Manchmal fällt er still vom Himmel, dann wird er leicht aufgewirbelt und scheint zu tanzen, dann wieder werden die Schneeflocken vom Sturm gepackt. Sehr subtil werden Rhythmen verschoben, durchaus eingängige Melodien leicht verändert und variiert. Herausgekommen ist Musik von überragender Schönheit und Würde. Die Gesangspartien geraten dabei eher etwas in den Hintergrund0. Abrahamsen komponiert zwar phantastisch weite, melodische Bögen, ihm gelingen berückend schöne Ensembleszenen mit geradezu sogartiger Wirkung, aber oft singen die Protagonisten über längere Partien auf einem einzigen Ton, ohne Intervallsprünge, beinahe rezitativisch.

Überraschend und für mich nicht ganz überzeugend ist die Wahl der Tonlagen: Die Schneekönigin ist eine Basspartie, von Peter Rose kraftvoll und fulminant gesungen (wie auch seine Rolle als Rentier und als Uhr); Kay ist ein Mezzosopran, den Rachael Wilson mit warmer, voller Stimme bestens ausfüllt, ein Countertenor singt eine Krähe. Wer Barbara Hannigan kennt, der weiß um die Brillanz ihrer Koloraturen und um ihre kraftvolle Höhe. Abrahamsen macht davon überraschend wenig Gebrauch, weil er ihre Partie recht tief gelegt hat, so dass Hannigan, die auch etwas indisponiert klang, vor allem im ersten Akt manchmal kaum zu hören war. Für die Inszenierung zeichnet in München Andreas Kriegenburg verantwortlich. Er versucht erst gar nicht, eine Geschichte zu erzählen oder die Szenen miteinander durch einen roten Faden zu verbinden, und das ist eine kluge Entscheidung. Gerda und Kay sind bei ihm keine Kinder, sondern ein erwachsenes Paar. Kay liegt krank in einer Art Psychiatrie und ist völlig unfähig, Beziehungen zu anderen Menschen aufzunehmen. Er ist autistisch ganz in sich und seiner Welt gefangen. Noch bevor die Musik der Oper einsetzt, sieht man die schäbige Außenwand eines, wie sich zeigen wird, psychiatrischen Krankenhauses (Bühne: Harald B. Thor) mit zwei riesigen Schiebetüren, die sich erst mit dem Einsetzen der Musik öffnen und den Blick ins Innere der stilisierten Psychiatrie freigeben. Gerda kommt, sichtlich erschöpft und verzweifelt, aus dem Krankenhaus heraus, begegnet noch einem Arzt und zwei Krankenschwestern und legt sich übermüdet auf drei Stühle seitlich an der Bühne. Textprojektionen auf die Außenwand zeigen, was sie denkt: Warum hast Du mich verlassen? Warum? Dann schläft sie ein. Was Kriegenburg nach dieser Eröffnungsszene inszeniert, bleibt ebenso wie die ganze Oper oft rätselhaft. Ich verstehe es als Gerdas Traumbilder, als Blick in ihr Innenleben. Und wie im Traum, so fehlt auch auf der Bühne der Handlung konsequenterweise jede klare zeitliche und örtliche Logik. So gibt es Kay dreimal. Zum einen als kleinen Jungen, zum anderen als schweigenden erwachsenen Schauspieler, dargestellt von Thomas Gräßle, und als Sängerin der Rolle. Wenn man beispielsweise sieht, wie der kleine Kay von der Schneekönigin berührt wird, windet sich Thomas Gräßle vor Schmerz im Bett und wird von Krankenschwestern beruhigt, die weit ausladende Phantasiehauben wie Engelsflügel haben. Die Bühne selbst ist durch riesige, halbdurchsichtige Plastikplanen begrenzt, das Licht (Michael Bauer) oszilliert zwischen weiß, grau und blau. Der Eindruck der Kälte wird durch Kunstschnee verstärkt, der die meiste Zeit vom Schnürboden rieselt und auf dem Bühnenboden eine knöchelhohe Schicht bildet, die man als Schnee oder auch als Wolken sehen kann, wenn die engelgleichen Krankenschwestern auf ihr dahinzugleiten scheinen.

Dass Kriegenburgs Bilder nie ins Beliebige, Triviale abgleiten, sondern eine eigentümliche Sogwirkung und, ja, eine ganz eigene Ästhetik und Schönheit entfalten, zeigt die Größe seiner Kunst.