Über 60 Jahre nach der Premiere ist John Crankos „Romeo und Julia“ in der Ausstattung von Jürgen Rose noch immer ein Garant für volle Häuser. Diese Choreographie hat nichts von ihrem Zauber, ihrer dramatischen Wucht, ihrem Witz und Charme eingebüßt, und auch das Bühnenbild und die Kostüme, die Jürgen Rose geschaffen hat, bewähren ihre zeitlose Eleganz und Schönheit, wie die 271. Aufführung im Münchner Nationaltheater eindrücklich vor Augen führte.
Dass eine solche Schöpfung nach so langer Zeit keineswegs abgestanden und gestrig wirkt, ist natürlich in erster Linie den Tänzern zu danken, die Romeo und Julias Lieben, Leiden und Sterben immer wieder neu erzählen. Mit spielerischer Lust meistert das Corps de ballet diese Aufgabe in den vielen großen Ensemble-Szenen mit ihrem überbordenden Detailreichtum.
Erst recht gilt das für die großen Auftritte der zentralen Charaktere, die glaubhaft und facettenreich dargestellt wurden. Anrührend zum Beispiel wird gezeigt, wie Julia, die auf dem Fest ihrer Eltern mit dem ihr zum Gatten bestimmten Grafen Paris tanzt, in den Bann Romeos gerät und ihres eigentlichen Partners darüber mehr und mehr vergisst (1. Akt, 4. Szene). Severin Brunhubers Paris ist dabei eine noble Erscheinung, die sich der Rolle gemäß ganz in den Formen und Formeln höfischer Konvention bewegt. Das zeigt sich besonders eindrücklich im Kontrast zur Leidenschaft und Dynamik, die sich am Ende des ersten Aktes zwischen Romeo und Julia entfalten. Julian MacKay tat sich zu Beginn des Abends mit seinem Part technisch sichtlich schwer, gewann im Zusammenspiel mit Julia später aber mehr Sicherheit und auch Bühnenpräsenz. Madison Young hingegen war nicht nur vermöge einer tadellosen Technik eine beeindruckende Julia, sondern vor allem, weil sie die Wandlung der Figur zu vermitteln verstand. Sprüht sie zu Beginn, als ihre Mutter (Séverine Ferrolier) sie mit einem neuen Kleid überrascht, nur so von geradezu füllenhafter Mädchenfreude, so ringt sie später (3. Szene, 3. Akt) mutig alle inneren Widerstände nieder, die sie davon abhalten könnten, den widrigen Trank zu schlucken, den Pater Lorenzo (Krzystof Zawadzki) ihr gab.
Cranko war indes so klug, Shakespeare darin zu folgen, die dramatischen, tragischen Momente der Geschichte durch komische Szenen zu konterkarieren. Shale Wagman ist dabei als überdrehter, wahrhaft quecksilberiger Mercutio eine ideale Besetzung: federleicht und katzenhaft geschmeidig, technisch bravourös und darstellerisch gerade im Konflikt mit Tybalt (glaubhaft düster und bedrohlich: Florian Ulrich Sollfrank) überragend.
In dieser Spielzeit werden Romeo und Julia nicht wiederkehren auf die Bühne des Nationaltheaters. Aber in der kommenden Saison kann man den „starcrossed lovers“ wiederbegegnen. Es lohnt sich, immer wieder.