Der Ring des Nibelungen Richard Wagners am Opernhaus Zürich schickt sich an, zum Klassiker zu werden. Nach Rheingold (Premiere 30. April 2022) und Walküre (Premiere 18. September 2022) Siegfried (Premiere 4. März 2023; Götterdämmerung steht für November 2023 an). Wieder macht Intendant Andreas Homoki in seiner letzten Saison alles richtig und erweist sich dramaturgisch so trittsicher wie Siegfried auf dem Gipfel des Brünnhildensteins. Seine Regie wird komplettiert von der Philharmonia Zürich unter Gianandrea Noseda, der im Februar anlässlich des deutschen OPER! AWARD zum „Besten Dirigenten“ der Branche gekürt wurde; der Zürcher Ring war nicht einziger, wohl aber gewichtigster Grund dafür. Hinzu kommt eine Besetzung, wie sie stimmtechnisch und rollenbezogen überzeugender selten ausfällt; besser kann Siegfried kaum gelingen.
Dabei ist es gerade hier recht einfach zu scheitern bzw. das Publikum zu verlieren; die grotesken Märchenelemente der Handlung, die Naturhaftigkeit und fehlende zivilisatorische Bezogenheit des Titelhelden machen Siegfried etwas sperrig und unbequem. Und in Zürich? Der Regie gelingt, fortwährend die Spannung zu halten, komische und unterhaltsame Aspekte so hervorzukehren, dass sie sich nicht gegenseitig nivellieren, obschon letztere überbetont werden. Für Homoki ist „der Siegfried […] zweifellos eine Komödie“.
Siegfried als komischer Held? So wird er in Zürich von Klaus Florian Vogt in dessen Rollendebüt verkörpert. Kein Germanen-Hühne mit nacktem Oberkörper, eher Oberschüler auf Klassenreise; trägt im Unterschied zum stilsicheren Auftreten aller anderen Figuren zur dreiviertellangen Cargohose dunkles T-Shirt, fehlen bloß Bauchtasche und Sandalen. Schlurft meist mit hängenden Schultern, gleichwohl nicht antriebslos, Siegfried als naturverbundener Spitzbub. Der muss nicht nur das Fürchten lernen, auch Benimm und Umgangsformen, das verweist auf die höfische bzw. bei Homoki durchgehend (groß-)bürgerliche Götterdämmerungs-Welt. Allerdings, das zeichnet Homokis Regie aus, nimmt ihm dadurch selbst seine präpotenten Ausfälle, Überheblichkeiten und Hässlichkeiten niemand mehr übel.
Homoki gelingt es, Siegfried im Einklang mit der Natur darzustellen. Der Bär, den er in Mimes Schmiede treibt, springt zum Abschied an seinem Bezwinger hoch und herzt ihn, urwüchsig-naive Unschuld und Wildheit werden ausgesöhnt, Waldvöglein umtanzt und umflattert Siegfried. Seine juvenilen Prahlereien, Drohungen und Unverschämtheiten gegenüber Mime, Fafner oder Wotan werden naturgemäß; wäre dieser Naturbursche höflich und angepasst, müsste Siegfried sich verstellen, verlöre seine Ehrlichkeit. So ist er – ungehobelt, brutal, unzivilisiert, ungezogen –, was er eben ist, zugleich offen und unverstellt. Vogt legt der Rolle Einnehmendes und Lustiges bei, offensichtlich ist dieser Siegfried, wie Homoki formuliert, kein „debiler Schlagetot, der die antisemitischen Klischees Wagners sozusagen verinnerlicht hat und loszieht, die Welt von allem Abweichendem zu reinigen.“
Sondern trotz aller Missverständnisse und Rohheiten ein sympathischer Kerl. Blonder Allerweltsdeutscher mit einnehmendem Grinsen, dem niemand böse sein kann, selbst wenn er seinen unbewaffneten Ziehvater mit dem Schwert niedermacht, dem unbekannten Wanderer mit Gewalt, Körperverletzung und Mord droht oder übergriffig schlafende Frauen entkleidet, körperlich bedrängt und ungefragt küsst. Heldentum, das anstössig und gestrig wirken mag, gar problematische Realisierung toxischer Männlichkeit darstellt. Siegfried mit Nothung als asozialer Gewalttäter mit gezückter Waffe? Solche Assoziationen kommen in Vogts Darstellung nie auf. Wie er die Rolle auch gesanglich ausfüllt, mit leichter, heller, heiterer Tenorstimme, die nichts Heldisches hat, ist phänomenal, lässt alles Abstoßende der Siegfried-Figur vergessen.
Mit dieser Komisierung sind wichtige Hürden genommen. Sie macht es leichter, Bühne und Kostüme noch mehr zu schätzen, besonders aus der Kontinuität zu den bisherigen Teilen des Bühnenfestspiels. An den Drehbühneneinsatz hat man sich gewöhnt, das hohe Karusselltempo ist verloren, das klassizistische Interieur mit Kassettentüren und hohen Decken (Ausstattung und Bühne Christian Schmidt, Mitarbeit Bühnenbild Florian Schaaf) ist schwarz und dunkelstrahlend (Licht Franck Evin). Als Requisiten liegen die Reste der Wolkenheim-Einrichtung aufgetürmt, beschmutzt und beschädigt herum, wobei vieles zitathaft wiederkehrt: Wanderer und Siegfried kämpfen auf dem langen Wolkenheim-Tisch, das Rheintöchter-Bett bildet den Ort, wo sich das Liebespaar miteinander vergnügt, nachdem es den librettogerecht mit Tanne naturalistisch gestalteten Brünnhildenfelsen verließ.
Als Siegfried auf die schlafende Brünnhilde aufmerksam wird und „erschreckt und staunend“ erkennt, dass unter Helm und Rüstung kein Krieger steckt, sondern ein weibliches Wesen („Ach! Wie schön! […] Das ist kein Mann!“), ist das so komisch wie bewegend. Wie er sich verhalten soll, wen er vor sich hat, wie ihm geschieht, was über ihn hereinbrechen wird, weiß das große Kind nicht: „Ist dies das Fürchten? O Mutter! Mutter! Dein mutiges Kind! Im Schlafe liegt eine Frau, die hat ihn das Fürchten gelehrt!“ Alles wird lustig, zugleich ehrfürchtig-anrührend inszeniert, zärtlich, ohne Kraftmeierei; Siegfried traut nicht sich anzunähern; erschrickt; entfernt sich. Als Brünnhilde erwacht, verschlägt es ihm die Sprache.
Musikalisch ist kaum etwas zu kritisieren. Camilla Nylund wirkt anfangs zwar verschlafen und es braucht ein wenig, bis sie voll da ist; doch das intensiviert nur ihre realistische Darbietung. Gemeinsam mit Vogt bildet sie ein Traumpaar, auf das man sich hinsichtlich der Götterdämmerung freuen kann; dass Vogt als hochsingender, lyrischer und unangestrengter Siegfried das Lärmend-Heldische der Rolle fortlässt, harmoniert bestens mit den Qualitäten der finnischen Sängerin, die in Bayreuth seit Jahren Elisabeth in Tannhäuser, Elsa in Lohengrin oder Eva in den Meistersingern bestreitet oder im letzten Herbst in Zürich für ihr anderes Rollendebüt als Isolde in Tristan (zusätzlich schon in der Walküre als Brünnhilde) gefeiert wurde.
Tomasz Konieczny liefert einen souveränen Wanderer, der zugleich das Fragile und Angeknockte der Figur erkennen lässt. Wie Konieczny mit Anna Danik als Erda oder im Kampf mit Siegfried das Brüchige der Rolle ausdrückt, tief und tragisch ausgestaltet, ist großartig. Sein Bass ist eindrücklicher und tragender als der des ebenfalls starken David Leigh, der die meiste Zeit hinter der Bühne aus dem Off singt und dem dennoch gelingt, Fafner als böse, gefährlich und wild zu zeichnen, bevor jemand des Drachens ansichtig wird. Dieses Monstrum, von dem anfangs nur sein schuppiger Schwanz zu sehen ist, lehrt anders als Alberichs Verkörperungen im Zürcher Rheingold fast alle das Fürchten. Der Drachenkampf gerät zur Sensation, der man gebannt folgt; von den Verwandlungen Alberichs in Drache oder Kröte konnte man das nicht behaupten.
Mime und sein Bruder Alberich werden wie zuvor von Wolfgang Ablinger-Sperrhacke und Christopher Purves überragend verkörpert. Ablinger-Sperrhacke etwa gelingen die verhängnisvollen Wahrreden in Siegfrieds Gegenwart so gut, dass deren schizophrener Charakter durchschimmert; er staunt über sich selbst. Purves bringt das Betrogene und Übervorteilte an Alberich, seinen Hass auf Wotan und Siegfried, besonders im Einsatz mit Konieczny und Vogt zum Ausdruck. Noch die kleinste, wenngleich sympathischste Rolle – Simon Rattle meinte anlässlich seines konzertanten Siegfried-Dirigats beim BR-Symphonieorchester unlängst, er würde ausschließlich mit Waldvöglein verreisen, mit dem weiteren Siegfried-Personal aus Sympathiegründen niemals – wird von Rebeca Olvera hoch und gut gesungen und auch gespielt. Sie umgarnt Siegfried mit ausgebreiteten Schwingen.
Dirigent Gianandrea Noseda führt Solisten und Philharmonia Zürich präzise durch den langen Abend und schafft es, die Spannung zu halten und den besonderen Umständen des Aufführungsortes zu entsprechen. Anders als in Bayreuth passiert nie, dass Stimme und Bühne vorherrschen und ihnen Musik und Orchester geopfert würden, die akustisch oder zumindest optisch im Graben versteckt werden. Es wird niemals richtig dunkel, die Instrumentalisten bleiben sichtbar, optisch präsent. Das mindert die immersiven Effekte, die Wagner wünschte, verstärkt aber Sicht- wie Hörbarkeit der Musik und verleiht diesem Siegfried eine kammermusikalische und intime Prägung. Nicht Bayreuther Mischklang, sondern klares, frisches, gut den einzelnen Instrumentengruppen zuortbares Musizieren, das die Stimmen zugleich stützt, nicht zudeckt. Mit guter Dynamik und eindrucksvollen Tempi.
Egal, was Götterdämmerung bringen wird, dieser meisterliche Zürcher Ring kann kaum mehr missraten. Die Vorfreude ist groß, das Publikum applaudiert begeistert. Wünschenswert wären mehr Termine (auch wenn sie mit dieser Besetzung kaum realisiert werden) und die Möglichkeit, Wagners Bühnenfestspiel nicht auf mehrere Saisonen gestreckt, sondern im Verlauf weniger Tage zu erleben, wie zu den Aufführungen im August 1876.