Depression und Suizid sind akut, als Pandemieauswirkungen mehr denn je. Noch gravierender ist, welchen Belastungen Kindern depressiver oder suizidaler Eltern oft lebenslang ausgesetzt sind. Von Nick Hornbys All About a Boy bis zu Hape Kerkelings Der Junge muss an die frische Luft, beide erfolgreich verfilmt, ist dieses Thema durch Literatur und Film ins Bewusstsein gerückt worden. Solche pathographischen Egotexte werden oft als Aufzählung und in Listenform organisiert, das Aufschreiben mit therapeutischen Ausrichtungen verbunden. Für einen Menschen, der damit konfrontiert wird und weiterleben muss, bleiben elterliche Depression und Suizid Aufgabe, Bürde und Last, die das eigene Leben oft sogar generationenübergreifend beeinträchtigen.
Duncan Macmillans Every Brilliant Thing wurde 2013 am Ludlow Fringe Festival uraufgeführt, kam 2014 an den Broadway und war mit dem Comedian Jonny Donahoe, mit dem das Stück ausgearbeitet wurde, 2016 als HBO-Verfilmung sogar im Fernsehen. Im gleichen Jahr kam es als All das Schöne am Staatstheater Mainz in Übersetzung von Corinna Brocher erstmals deutsch auf die Bühne. Aktuell und wichtig ist es geblieben. Darum ist es begrüßenswert, dass die Inszenierung von Franziska Stuhr, die zuvor am Jungen SchauSpielHaus Hamburg gezeigt wurde, nun als Wiederaufnahme in Bern zu sehen ist. Premiere war am 23. Oktober 2021.
Der Abend bietet Genet Zegay, die neu zum Berner Schauspielensemble gehört, eine ideale Möglichkeit, sich dem Publikum vorzustellen. Das gut einstündige Monologstück ist also nicht nur wegen seines eminenten Themas und aufgrund der herbstlichen Jahreszeit und damit einhergehender Gemütsverstimmungen hochwillkommen. Auch durch Nähe und Interaktion mit dem Publikum, die es fordert, ergeben sich gute Gelegenheiten zum gegenseitigen Sich-Kennenlernen.
Beim Monologisieren bleibt es nicht: Der Erzähler/die Erzählerin (Narrator; bei Macmillan ist es mit Donahoe zu Beginn ein Sechsjähriger, bei Stuhr mit Zegay eine anfangs Siebenjährige) überträgt die wenigen Zusatzrollen gekonnt auf das Publikum und lässt es mitsprechen, -singen und -spielen. So gibt es zusätzlich einen Tierarzt (Vet), den Vater (Dad), die große Liebe Alex (Sam), eine Unidozentin (Lecturer), eine Vertrauenslehrerin mit therapeutisch sprechender Strumpfsocke (Mrs Patterson/Sock). Abwesend ist immer die Mutter, diese spricht nie, um sie und deren schließlich erfolgende Selbsttötung geht es bzw. um die fatalen psychischen und sozialen Folgen dieser Handlung für das Kind (weitere Geschwisterkinder sind in künstlerischen Behandlungen dieses Familiensettings meist absent, auch in All das Schöne):
„Es ist weit verbreitet, dass Kinder von Selbstmördern sich selbst die Schuld geben. Man kann noch so genau wissen, dass man nicht schuld ist, man hat trotzdem das Gefühl versagt zu haben. Es ist ungerecht, dass man das fühlt, aber es ist normal.“ Es geht um Abwehrmechanismen, Selbsthilferituale und glückende wie beglückende Versuche, mit all dem fertig zu werden oder eben nicht. Dem Publikum (Audience) kommt zu, Listeneinträge auf Zeichen der moderierenden Erzählerin hin einzusagen und vorzutragen; es wird aber auch zum spontanen Abhalten von Hochzeitsreden oder Absingen von Liebesliedern ermutigt oder dazu angehalten, schauspielernd Text nachzusprechen.
All das Schöne setzt damit ein – wenn man vom Begrüßen durch die Hauptrolle absieht, das konstitutiv zum Stück gehört (zur Erstaufführung tigerte Donahoe eine halbe Stunde vor Beginn durchs wartende Publikum) –, dass das Kind mit dem Tod konfrontiert wird. Es verliert seinen Hund; der Tierarzt setzt eine tödliche Spritze, weil Einschläfern für das erkrankte Tier das beste sei. Brutale und geläufige Euthanasie. Ein Haustier mag Familienmitglied sein, jedoch kein Elternteil. Was folgt, der erste missglückte Selbsttötungsversuch der Mutter, bleibt vielen unbekannt. „Warum?“ Der Vater müht sich redlich um Antworten, verstummt. „Warum?“ – „Weil es für deine Mutter nichts gibt, für das zu leben sich lohnt“. Oder: „Deine Mutter hat etwas Dummes gemacht.“
In Wirklichkeit sitzen Vater und Kind stumm da, der Dialog spielt sich in der Erinnerung ab bzw. ist, woran die erwachsene Person sich gerne erinnern würde. Um der Mutter das Lohnenswerte des Lebens zu beweisen, beginnt das Kind eine schriftliche Aufzählung alles Schönen, „eine Liste mit all dem, was an der Welt schön ist. Mit allem, wofür es sich zu leben lohnt.“ („a list of everything that’s brilliant about the world. Everything that’s worth living for.”) Sie beginnt: „1. Eiscreme. 2. Wasserschlachten. 3. Länger aufbleiben als sonst und fernsehen. 4. Die Farbe Gelb. 5. Sachen mit Streifen. 6. Achterbahnen.“
Die Einträge ändern sich mit dem Größer- und Älterwerden und bilden die Entwicklungen zum Teenager und Erwachsenen ab: „9996. Sex. 9997. Bekocht werden. 9998. Jemand ansehen, während er deinen Lieblingsfilm sieht. 9999. Die ganze Nacht durchreden. 10000. Spät mit jemandem aufwachen, den man liebt.“ Doch sie vermögen das Wesentliche nicht: die eigene Mutter davon abzuhalten, ihren Suizid wichtiger als das Leben zu nehmen. Denn diese liest die Liste oder nimmt ihr Vorliegen zur Kenntnis, korrigiert aber nur die Rechtschreibfehler. Mutter lässt nichts mehr an sich herankommen, bürdet ihren Lieben trotzdem alles auf.
Nach ihrem Selbstmord wird die Liste zwanghaft weitergeführt und dem Vater vorlegt, wächst trotz strenger Vorgaben („a. keine Wiederholungen. b. Die Sachen mussten wirklich großartig sein und lebensbejahend. c. Nicht zu viele materielle Dinge.“) unfassbar an. Mit 999997 („Das Alphabet“), 999998 („Unpassende Songs in gefühlvollen Momenten“) und 999999 („Eine Aufgabe abschließen“) wird sie bei Erreichen des millionsten Eintrags („Eine Platte zum ersten Mal anhören. Sie in den Händen halten, auf den Teller legen und die Nadel aufsetzen, das leise Zischen und Knacken des Saphirs auf dem Vinyl, bevor die Musik beginnt, dasitzen und zuhören, während man die Begleittexte auf dem Cover liest.“) abgebrochen oder bewusst zu Ende gebracht. Musik (Jan Paul Werge) spielt eine wichtige Rolle, das Kind tanzt, es wird gesungen, auf der Geige intoniert.
Nie lässt sich ungeschehen machen, was geschah. Die große Liebe wird ebenfalls tangiert, das Liebesglück überschattet durch diese Familiengeschichte. Man plant eigene Familie und Kinder. Doch Traurigkeit und Verletzungen durch die Mutter sitzen zu tief. So scheitert diese Ehe. Müsste sie nicht; zumindest nicht unwiderruflich. Als Alex auszieht, verbleibt als Nachricht: Ich liebe dich, lass es uns noch einmal versuchen, sobald Du bereit dafür bist. Das bleibt unbeachtet („Sam’s note said that she loved me and that when I was ready we should try again. But I didn’t find the note for seven years.“). Nach einer guten Stunde geht das Licht aus. Depressionen bleiben, arbeitet man sich aus ihnen heraus, ist es langjährige Schwerstarbeit.
Die 1992 geborene Zegay spielt die Siebenjährige, als würde diese persönlich auf der Bühne stehen. Zugleich, auch aus der Rückschau, überzeugend den Teenager, die Jugendliche, die junge Studentin, nicht mehr so glaubhaft die verheiratete Frau. Am besten gelingt Zegay die Spanne zwischen erstem Selbstmordversuch und Umsetzung, auch das Eruptive; die Begeisterung, die Überschwänglichkeit, das Pendeln zwischen Verzweiflung und Lebensfreude, Betrübnis und Heiterkeit. Sie spielt das Mädchen und den Teenager mit Offenheit für die Zukunft, im Unwissen, was kommen wird (bei Macmillan ist alles resultativer und rückblickender angelegt, aus der Perspektive des lädierten Erwachsenen, der auf sein kaputtgemachtes Leben zurückschaut).
Was Zegay auf der kargen Bühne (Karlotta Matthies; auch Kostüm) gelingt, wobei das Publikum zum Mitmachen und Mitfühlen animiert wird, indem sie zugleich ernst und heiter, schwer und fröhlich singt, tanzt, musiziert, ist viel. Si vis me flere dolendum est primum ipsi tibi, schreibt Horaz; dieser Grundsatz aller Rezeptionsästhetik und Tragödientheorie wird erweitert auf das Publikum, das mitwirkt. Es ist nicht teilnahmslos zuschauend, sondern wird aktiv. Mitmach- statt Guckkastentheater. Kein unbeteiligt-distanziertes Zuschauen. Willst du mich zum Weinen bringen, empfinde selbst zuerst Leid. Willst du verstehen, wie es sich anfühlt, einen depressiven suizidalen Elternteil zu haben, übernimm meine Rolle in einer solchen Familie. Das ist humorvoll, menschlich, nicht kitschig, trivial oder sentimental, wenn auch einige Gründe für ein lebenswertes Dasein sich isoliert so anhören und nach wenig klingen mögen. Bürde und Schuld einer solchen Erbschaft lassen sich nicht leicht abstreifen. Eigentlich ist diese Inszenierung schon gerechtfertigt, wenn sie nur einen Menschen rettet.
Alle werden eingebunden, bekommen Ratschläge fürs glücklichere und bessere Leben, es geht nicht nur um Überleben und Weiterleben, auch um Lebenskunst: Öfter ein Album von vorne bis hinten durchhören (nicht nur Playlists); häufiger lachen; mehr knutschen und kuscheln; mehr Hilfsbereitschaft wagen; sich am Erfolg anderer erfreuen. Manches daran erinnert an Grapefruit, Yoko Onos Book of Instructions and Drawings, oder andere Situationismusanleitungen. Es gibt eine Take-home-Message für alle, die an Suizid gedacht haben. Und alle, die daran denken: „Ich hab einen guten Rat für jeden, der mit dem Gedanken an Selbstmord spielt. Er geht so: Tu’s nicht. Es wird besser. Nicht unbedingt immer absolut schön. Aber besser.“ Herzzerreissende Durchhalte-Ethik.
Es gibt kein Programmheft zur Aufführung, dafür eine Serie mit sechs Postkarten, auf denen wirr gereiht die Nummern 724 („Wenn jemand anruft, an den man gerade denkt.“), 26 („Ins Meer pinkeln und keiner merkt’s“), 1008 („Zu Hause tanzen.“), 9995 („Sich verlieben.“), 1654 („In einer 6er Chicken-Nuggets-Box sieben Stück haben.“) und 994 („Frisöre, die einem wirklich zuhören, wenn man erklärt,was man will.“) abgedruckt sind. Es geht darum, das Thema zu streuen, über Social Media und eine eigens eingerichtete interaktive Themenseite. Dort wird grundlegend über Depression informiert und Hilfe angeboten.
Daher muss man nicht streiten, ob das nun große Literatur ist oder nicht (die wird, Stichwort Werther und Werther-Effekt, in Gestalt eines gelben Reclamheftchens mit Fußtritt weggekickt und als „Scheißbuch“ entsorgt); großes Theater ist es allemal. Das entscheidet sich wesentlich mit der Besetzung der Hauptrolle, die mit Zegay eindrücklich gelingt. Dafür darf man dankbar sein. Einen besseren Einstand als ein solches Antidepressivum und Therapeutikum gibt es kaum.