Vincent O. Carter wurde 1924 in Kansas, Missouri, geboren, nahm als afroamerikanischer GI an der Normandie-Landung der Alliierten teil und kämpfte in Frankreich und Belgien, arbeitete als Eisenbahnkoch, in Auto- und Waffenfabriken, studierte in Oxford und Detroit, bevor er 1953 neuerlich Europa besuchte, diesmal literarisch ambitioniert: Seine Reise – Joyce, Hemingway als Vorbild – sollte ihn zum Schriftsteller machen. In Paris, kein gefeierter Befreier mehr, waren Enttäuschung und Scheitern vorprogrammiert. Carter versuchte es in Amsterdam, begab sich nach München, reiste schließlich in die Schweiz. In Bern blieb er bis zu seinem Tod 1983.
In Bern wurde Carter wirklich Schriftsteller, über Umwege des Schreibens für Radio, Zeitschriften, Magazine, verdiente sich seinen Lebensunterhalt durch Englischunterricht, als Fernseh- und Theaterschauspieler, mit Gelegenheitsarbeiten. Liest man Carters zu Lebzeiten einzige Buchpublikation, das 1957 fertiggestellte, 1973 publizierte Bern Book – A Record of a Voyage of the Mind (mit einer Dalkey Archive Press-Neuauflage begann 2020 seine Wiederentdeckung), gerät man ins Staunen. Darüber, wie wenig sich in Bern seit den 50ern geändert hat und welche Verhaltensweisen stabil blieben. Das geschieht bei Texten etwa von Robert Walser oder Paul Nizon seltener.
Zwar schrieb Carter weitere zwischen Autobiographie und Autofiction angesiedelte Bücher, zu Lebzeiten blieben diese unveröffentlicht. The Bern Book bezeugt seine künstlerische Selbsterschaffung, die europäische Schriftsteller-Initiation (ohne Buch kein Autor), die Reise zu sich selbst; ein eigenartiger Reisebericht einer Reise ins eigene Ich, wie der Untertitel verheißt. Als sich 1973 endlich ein Verlag fand, war Carter längst weitergereist: bildender Künstler und spirituelle Autorität geworden, vorangeschritten auf dem Weg der Erleuchtung mittels Yoga, Meditation und anderer Praktiken. Inwieweit der vielseitig belesene Christian Kracht etwa Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten auch im Wissen um Carters Bern Book gestaltet hat, wäre interessant zu wissen.
2021 erschien im Limmat-Verlag Zürich Das Bernbuch: Meine weisse Stadt und ich auf Deutsch. Unter diesem Titel, Diskriminierung und Rassismus fokussierend, haben die Bühnen Bern den Text in Regie von Barbara Weber erstmals auf die Bühne gebracht. In einer gestrafften und zugleich erweiterten Bearbeitung (Dramaturgie Felicitas Zürcher; The Bern Book zählt 297, die Übersetzung 417 Seiten, die Uraufführung am 28. Januar dauerte 90 Minuten). Die Erzählinstanz aus Carters Text wird mit David Berger, Vanessa Bärtsch, Lou Haltinner, Yannis Maviaki und Mbene Mwambene auf fünf Personen verteilt, die alle auch den Protagonisten und seine Umwelt verkörpern.
The Bern Book ist, in Manier der Lettres persanes und anderer ethnographischer und kulturkritischer Berichte aus dem Inneren einer Gesellschaft (die neutrale Schweiz wusste sich aus den Weltkriegen herauszuhalten, stand besser da als viele Länder) auch eine Beschreibung aus minoritärer Außenperspektive, benennt, was die Beobachteten an sich selbst nie wahrnehmen könnten: „I would just give my impressions […] as seen through the eyes of an American Negro … who … who compares—as he looks at your city … his corresponding, and yet contrasting experiences in America […] All of which seemed curious to my auditors—quite curious and quaint, delightfully quaint, since nothing like that could possibly happen in Bern!“
Carter beobachtet bernische und schweizerische Befindlichkeiten, die sich aktuell weltpolitisch auswirken, etwa in der Frage politischer Neutralität oder hinsichtlich Waffen- bzw. Munitionslieferungen. Stichwort Switzerland Is Neutral: „The principal value of Switzerland in international political affairs is one of convenience […]. That is why Switzerland’s domestic life is so carefully controlled, and why in political matters the protocol is so religiously, almost fanatically, followed“. Debatten wie Nizons Diskurs in der Enge werden um Jahre, die Polemiken Niklaus Meienbergs oder Friedrich Dürrenmatts (Die Schweiz – ein Gefängnis) um Jahrzehnte vorweggenommen.
Es gibt vielfache Aktualisierungen des brandheißen Textes, der laut Dramaturgin Zürcher auf kollaborative Weise entstand: Sie habe ihn mit den Aufführenden gemeinsam ausgesucht und verdichtet, gebeten, „Textpatenschaften“ für wichtige Partien zu übernehmen, die es nach gemeinsamem Auswahlprozess auf die Bühne schafften. Auch Bühneninstallation (Konstantina Dacheva) und Kostüme (Dominique Steinegger) spiegeln in den 50ern fortwährend die Gegenwart, es gibt Geranienkästen an der Balkonbrüstung und Gin Tonic, im Bücherregal Kellers Grünen Heinrich, die Kleidung changiert zwischen damals und heute.
Zusätzlich gibt es Statisten und Songs, die Maviaki, als Rapkünstler „Z The Freshman“ bekannt, erarbeitet hat. Teilweise in Berndeutsch werden Rassismus, kulturelles Erbe, Identität etc. neuperspektiviert. Das macht, verbunden mit dem Aufführungsort in den peripher gelegenen Vidmar-Hallen und improvisierter Spielstätte, alles attraktiv für Menschen, die nie das Stadttheater betreten würden. Erweitert die Erfahrungen des Abonnementpublikums.
Wo es bei Carter heißt: „For ‘nigger’ had become for me a word which was more than a word […] It was a sort of Satan of words, with its own retinue of Satanically noble words, such as: ‘black,’ ‘kinky’ (with which word my hair was often described: it means ‘knotty’), ‘flat nose,’ ‘thick,’ ‘lips,’ ‘thickliptips,’ ‘red,’ ‘bright,’ ‘light,’ ‘white,’ ‘dark,’ ‘darky,’ ‘blue,’ ‘blues,’ ‘sing,’ ‘happy,’ ‘dance,’ ‘childlike,’ and countless others,“ rapt Maviaki: „Kinky sagen sie zu meinen Haaren […] Kraus nennen Sie meine Locken […] Die ständigen Blicke / Ich blende sie aus / Ich mag meine Nase breit / und meine Haare kraus / Geballte Faust / Wenn sie reinfassen […] Ich musste lernen sie zu lieben“.
Berger ist als langjähriges Mitglied des Berner Theaterensembles der bekannteste Schauspieler dieser Produktion; die anderen gehören entweder nicht oder nicht lange zum Ensemble, sind Schauspielschüler bzw. Laiendarsteller. Das führt zu einer Frische und Unbekümmertheit, die der unkonventionellen Schreibweise Carters entspricht; zugleich ist Berger nicht nur routinierter als die anderen, sondern auch keine Person of Color. Als blonder weißer Mann, was er aus der Rolle tretend thematisiert, die für das Publikum wohl zugänglichste Figur; man kennt ihn aus einer Vielzahl früherer Inszenierungen. Ist, obschon in Basel geboren, bekannt, vertraut, hiesig; der Berner, Herr Schweizer. Normalbürger, auch Bünzli. Berndeutsch neben Deutsch und Englisch sprechen und singen freilich alle.
In einer improvisierten bzw. zumindest so wirkenden Szene fragt Berger, wer aus dem Publikum erklären könne, wie man sich korrekt verhalte, wenn man weder das N-Wort noch andere rassistisch grundierte Umschreibungen verwenden möchte und wie herausfordernd es sei, ein privilegiertes Normalleben zu führen. Wie angefasst man sich dabei als alter weißer Mann fühlen könne: „Alles so fragil! Alles so speziell!“ Dass freundliches Lächeln auf solche Fragen nicht weiterhelfe. White Fragility als The White Man’s Burden. Ein weißhaariger Zuschauer schwenkt von seiner anfangs vorgeschlagenen Verhaltensmaxime des „Schweigens“ allen Ernstes zu einer „Mohrenkopf“-Diskussion („sag ich noch“). Eine Zuschauerin/Statistin kann sich vor verzweifeltem Lachen nicht halten, wird vom konsternierten Schauspieler angefahren, warum sie auslache und verspotte, Berger verlässt aufgebracht die Szene.
Es sind Momente, in denen alles umzukippen scheint, auch weil die Dringlichkeit von Ausgrenzung, Diskriminierung und Rassismus zu spüren ist. „Da steht ein Elephant im Raum!“ heißt es mehrmals. Im Bern Book ist die Lösung Empathie, Verzeihen. Liebe: „Therefore, I say, love Thyself and—“ „Reassured by my newly discovered wisdom, […] my decision had filled me with respect for myself and for my fellowman as well. What matter if he laughed at me as I walked down the street! I would love him, in spite of all! For, after all, was not love the final answer?—cool, objective, undifferentiated love?“ Der spirituelle Weg, den Carter beschreiten sollte, malend, musizierend, meditierend, schlägt durch.
Nachdem er in einer Aufführung von Max Frischs Santa Cruz eine Nebenrolle (im Personenverzeichnis: „Ein Doktor […] Ein Neger […] Ein Gendarm“), die er zuvor wegen Rassismus ablehnte, glänzend gespielt und trotz des unsäglichen Textes („PEDRO […] Auch der Nigger ist da! Es kommt der Neger, der Austern verkauft. NEGER Ei, ei! Ei, ei! PEDRO Ich liebe sein einfaches Gemüt. […] Der Neger grinst, dann geht er weiter.“) an öffentlicher Achtung gewinnen konnte, reflektiert der Erzähler: „I felt triumphant. […] Now I was really proud to be Der Neger, as long as my name was also Herr Carter. […] I learned to resist the rage, which I had formerly experienced, at the sound of the word ‘nigger’: […] I had never felt better in my whole life.“
Seine genauen Beobachtungen sind Carters Reaktion darauf, sich in exponierter Position zu befinden, als arbeitsloser, sozial schlecht integrierter und der Sprache anfangs nicht mächtiger Besucher, der seine Anwesenheit immerzu zu rechtfertigen habe. Die Foundation-Shattering Question: „Why did you come to Bern?“ korrespondiert mit der in die Inszenierung aufgenommenen Rassismus-Definition Toni Morrisons, wonach dieser das Existenzrecht von Menschen in Frage stelle: „The function, the very serious function of racism is distraction. It keeps you from doing your work. It keeps you explaining, over and over again, your reason for being.“
The Bern Book bleibt eine lesenswerte Publikation, aktuell – angestossen durch die amerikanische Neuauflage, die Übersetzung und diese Inszenierung – ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Carter schreibt witzig, manchmal blitzgescheit, mitunter weise über Probleme, die bis heute akute und gravierende sind. Die Bühnen Bern liefern keine perfekte Literaturadaption, dafür wird Carters Bern Book zu stark verkürzt, bringen aber einen wichtigen Stoff auf die Bühne und vermitteln ihn niederschwellig einem breiten Publikum. Das begeistert applaudiert. Auch das ist Literaturvermittlung. Eine gelungene Premiere.