Anmut und Ekstase
„Wings of Memory“ zeigt das Bayerischen Staatsballett in Bestform
München, 10. April 2025, Christian Gohlke

Die Ballett-Festwoche 2025 – auf dem Papier schaut sie zunächst einmal enttäuschend aus: Keine Gala, keine Höhepunkte der Saison, stattdessen die sechsfache Wiederholung von „Wings of Memory“, einem Dreiteiler ohne neu geschaffenes Werk. Man kann also durchaus verstehen, dass es im Vorfeld beim Blick auf den Spielplan lange Gesichter gab. Doch die Enttäuschung ist längst großer Begeisterung über die neue Produktion gewichen. „Wings of Memory“ ist ein faszinierender, in sich stimmiger und außerdem großartig getanzter Abend geworden.

Eröffnet wurde er mit „Bella Figura“, einer Arbeit, die Jiří Kylián 1995 für das Nederlands Dans Theater für fünf Tänzerinnen und vier Tänzer zu Musik von Marcello, Pergolesi, Vivaldi und anderen Barockkomponisten geschaffen hat. 2002 stand es schon einmal auf dem Spielplan des Staatsballetts. Bei geöffnetem Vorhang wärmen sich die Tänzer in ihrer alltäglichen Trainingskleidung auf, sie dehnen sich, lassen ihre Arme kreisen, probieren Posen. Doch was so prosaisch beginnt, gewinnt dann nicht zuletzt durch eine raffinierte, an Caravaggio erinnernde Beleuchtung Feierlichkeit und eine beinahe religiöse Anmutung. In knapp 30 Minuten formieren sich die Paare zu immer neuen Konstellationen und zeigen, immer passend zur Musik, Möglichkeiten tänzerischer Schönheit wie in einem Kaleidoskop der Formensprache. Osiel Gouneo und Madison Young, Jakob Feyferlik und Ksenia Shevtsova wirken dabei besonders elegant. Wie ein Gemälde mutet es an, wenn die Tänzer in leuchtend roten Röcken mit phantastischem Faltenwurf (Kostüme: Joke Visser) in einer Reihe stehen und den schwarzen Samtvorhang, der vom Schnürboden herabsinkt, in ihren gestreckten Armen auffangen. Besonders berührend gerät der Schluss. Wenn die Musik längst verklungen ist, begegnen sich Carollina Bastos und António Casalinho in völliger Stille. Die lodernden Flammen in zwei Schalen verleihen der Szenerie sakrale Würde. Wieder und wieder legt sie einander einer immer sanfteren, zarteren Geste die Hand auf die Schulter, die, in unguter, krampfartiger Spannung nach oben gezogen, sich nun löst. Ein Zuspruch, ganz ohne Worte: Sei ruhig, lass es gut sein, du bist recht und geliebt.

Eine ebenso intensive, wenn auch ganz andere Art der Begegnung zeigt Sidi Larbi Cherkaoui in seiner Choreographie „Faun“ aus dem Jahr 2009 zu Debussys Komposition „L’après midi d’un faune“, deren Klangsinnlichkeit Andrew Litton am Pult des Bayerischen Staatsorchesters überzeugend entfaltet. In einer waldschattigen Umgebung tummelt sich sich António Casalinho als Faun. Sein Tanz bleibt bodennah, immer wieder kreist er um sich und überschlägt sich. Vor der Nymphe schreckt er zunächst zurück, doch die Begegnung mit Margarita Fernandes entwickelt sich zu einem erotischen, sexuellen Spiel, das indes weit von aller lasziven Schlüpfrigkeit entfernt ist. Vielmehr erscheinen die beiden als Naturwesen, die in aller Unschuld wie junge, höchst agile katzenhafte Wesen ihrer Sinneslust nachgeben. Der Auftritt beider Tänzer macht schmerzlich bewusst, welche Qualität dem Bayerischen Staatsballett durch ihren Weggang nach Wien verloren gehen wird.

Erwachende Natur, Sinnlichkeit, aber auch Brutalität und Grausamkeit – davon erzählt Pina Bauschs „Frühlingsopfer“ aus dem Jahr 1975. Der Torf, der zollhoch die Bühne des Nationaltheaters bedeckt, verströmt nicht nur einen erdigen Geruch. Er hinterlässt auch sichtbare Spuren auf den Körpern und Gesichtern der Tänzer, deren schweres Atmen überdies erahnen lässt, dass sie von dem, was hier erzählt wird, gezeichnet werden. Männer mit schwarzen Hosen und bloßem Oberkörper stehen den Frauen in ihren schlichten, beigefarbenen Kleidchen gegenüber, es gibt ein Haschen und Jagen, getanzt mit großem Körpereinsatz, immer wieder auch kultisch anmutende Ringtänze. Und dann ist das Opfer bestimmt, erkennbar am roten Kleid, das ihr aufgedrungen wird. Soren Sakadales steht ihm mit wilder, unerbittlicher Entschlossenheit gegenüber, die auf ein Minimum von Bewegung reduziert ist – ein fesselnder Eindruck. Und Laurretta Summerscales tanzt als Opfer mit gelöstem Haar wahrhaft ekstatisch, bis sie tot zusammenbricht. Tosender Applaus für eine geglückte Premiere.