Armand und Marguerite
John Neumeiers „Kameliendame“ beim Wiener Staatsballett
Wien, 19. Februar 2025, Christian Gohlke

Bestimmt gehört John Neumeiers „Kameliendame“ zu den großen Ballett-Kreationen des letzten Jahrhunderts. Nicht umsonst ist die Choreographie seit ihrer Uraufführung in Stuttgart 1978 inzwischen so etwas wie ein Klassiker geworden. Die auf einem Roman von Alexandre Dumas basierende Geschichte um die Kurtisane Marguerite und deren Liebhaber Armand wird von vielen großen Kompanien der Welt getanzt – immer mit großem Erfolg. Das liegt wohl vor allem an der differenzierten Charakterzeichnung, die Neumeier gelang, aber auch an Jürgen Roses elegant-schlichtem Bühnenbild, das ganz aufs Wesentliche reduziert ist und so den detailreichen, ungemein kunstvoll gearbeiteten Kostümen Raum zur Entfaltung gibt.

Wie oft, so erzählt Neumeier die Handlung auch hier nicht gradlinig chronologisch, sondern in Rückblenden. Marguerite, die umschwärmte Kurtisane der Pariser Hautevolee, ist tot; ihre Besitztümer werden verkauft. Armand, ihr früherer Geliebter, erfährt davon, trifft seinen Vater in ihren Räumen bei der Auktion und berichtet ihm schließlich von seiner Liebe zu ihr. Dabei stellt Neumeier drei große Pas de deux in den Mittelpunkt. Es gelang den beiden Wiener Solisten Timoor Afshar als Armand und Ketevan Papava als Kameliendame, diesen drei großen Begegnungen ein je ganz eigenes Gepräge zu verleihen, wenn zunächst auch nicht immer jede Geste ganz präzise auf die Musik abgestimmt scheint. Allerdings dauert es auch eine ganze Weile, bis das Orchester der Wiener Staatsoper unter der Leitung von Markus Lehtinen zur gewohnten Klangschönheit und Homogenität findet.

Zunächst weist Marguerite die Liebe Armands durch superioren Spott und kokettes Gehabe leichthin ab, was Papava überzeugend darstellt. Doch die völlig ungeschützte Hingabe des jungen Mannes, der sich ihr einfach zu Füßen wirft in unbedingter Ernsthaftigkeit, durchbricht ihre eitle Seelenbarrikade, wobei Afshar einen anfangs fast noch jungenhaften und emotional ungestümen Armand tanzt. Später, als beide ein Paar geworden sind und Marguerite die Ansprüche eines Herzogs abweist, indem sie ihm ein Collier, das offenbar als Lohn für Liebesdienste bezahlt worden war, vor die Füße wirft und sie sich mit dieser Geste ganz zu Armand bekennt, zeigen die beiden in weitengeschwungenen, raumgreifenden Bögen und weichen Hebungen einen Moment vollkommenen Glücks. Sie mit gelöstem Haar und offenem Herzen, er ganz ihr zugewandt. Doch die ländliche Idylle dauert nur kurz: Armands Vater fordert sie auf, seinem Sohn aus gesellschaftlichen Gründen zu entsagen. Papavan zeigt sich in der Konfrontation mit Monsieur Duval (Eno Peci) zunächst trotzig. Doch gegen die Macht der eigenen Vergangenheit kommt sie nicht an, was Neumeier in einer atemberaubenden Szene klarmacht. Schon die Auswahl der Musik ist bestechend: Vollkommen zwingend erscheint der Einsatz des berühmten „Regentropfen-Préludes“ (op. 28, Nr. 15), gerade so, als habe es Chopin just für diese Szene komponiert. Wenn die Basslinie des Prélude unter dem hämmernden Ostinato aufsteigt (mit klanglicher Sensibilität gespielt von Oliver Kern), erscheint die von ihren Freiern umschwärmte Manon Lescaut (Kiyoka Hashimoto) als Spiegelfigur Marguerites und zwingt sie zurück in ihr altes Leben. Marguerite fügt sich, wenn auch unter Schmerzen, verlässt ihren Armand, den sie zweifellos innig liebt, und kehrt später noch einmal zu ihm zurück, besucht ihn für eine einzige Nacht. Leidenschaft, in die sich Zorn und Aggression mischen, bestimmt diese Begegnung, und auch dafür finden die beiden Solisten einen glaubhaften Ausdruck. So gelang die Wiederaufnahme der „Kameliendame“ (es war die 12. Vorstellung seit der Wiener Premiere im vergangenen Jahr) durchaus überzeugend. Und das Corps de ballet wird in den folgenden Vorstellungen bestimmt an Präzision gewinnen und die großen Ball-Szenen noch eindrucksvoller gestalten.