Der Herbst ist da, kalte, regnerische Tage liegen schon jetzt, Anfang Oktober, hinter uns, kältere und dunklere Wochen und Monate werden folgen. Nein, die Aussichten sind nicht rosig. In München immerhin darf man sich in der neuen Kultur-Saison auf einige Höhepunkte freuen. Ein Lichtblick, vielleicht. Nach zwei Spielzeiten, in denen die Bayerische Staatsoper unter ihrem neuen Intendanten Serge Dorny vor allem exotische, selten gespielte, randständige Werke zur Premiere brachte, gibt es nun drei Neuinszenierungen von Opern aus dem Kernbestand des Repertoires. Mozarts „Cosi fan tutte“ (26. Oktober 2022), Wagners „Lohengrin“ (3. Dezember 2022) und Verdis „Aida“ (15. Mai 2023). Das Bayerische Staatsballett bereitet indes zwei große Premieren vor: Alexei Ratmanskys „Tschaikowski-Ouvertüren“ (23. Dezember 2022) und „Schmetterling“ von Sol León und Paul Lightfoot (31. März 2023). Auch das Staatsschauspiel gleich nebenan bietet mindestens zwei vielversprechende Premieren: „Engel für Amerika“ von Tony Kushner (23. September 2022) und Hugo von Hofmannsthals sehr selten gespielter „Turm“ (21. Oktober 2022). Kleists „Käthchen“, Sophokles‘ „Antigone“ und Goethes „Götz“ gibt es leider nur in Bearbeitungen, Neufassungen, Überschreibungen. Warum eigentlich?
Eingeläutet wurde die neue Spielzeit mit zwei bemerkenswerten Wiederaufnahmen im Nationaltheater.
„Passagen“ heißt der dreiteilige Ballett-Abend, der im März zum ersten Mal gezeigt wurde und jetzt wieder auf dem Spielplan steht. Den Anfang macht David Dawsons halbstündige Choreographie „Affairs of the heart“. Dawson erzählt keine Geschichte. Die Tänzer sollen jedoch „die Energie des Herzens“ visualisieren, so der Choreograph in einem Interview, und zu Marjan Mozetichs Violinkonzert unterschiedliche emotionale Zustände ausdrücken. Die fließenden, oft kreisenden Bewegungen und die vielen anspruchsvollen Hebefiguren greifen die weichen, fließenden Klänge dieses Violinkonzertes in drei Sätzen auf und bilden mit dem sich farblich ständig wandelnden Bühnenhintergrund in raffinierter Beleuchtung eine ansprechende ästhetische Einheit. Die insgesamt dreizehn Tänzer (sieben Damen und sechs Herren) in schlichten bläulich-grauen Trikotanzügen (Kostüme: Yumiko Takeshima) formieren sich dabei zu immer neuen, ansprechenden, wenn auch nicht immer mit letzter Präzision getanzten Einheiten. Das Gegenstück zu dieser weichen, sanft dahinfließenden Arbeit bildet Marco Goeckes „Sweet bones‘ melody“ zur Musik von Unsuk Chin. Stockend, abrupt und hart muten die Bewegungen der Tänzer an: Flatternde Handbewegungen, Drehungen in absurder Geschwindigkeit, Ausdrücke der Panik, der Verzweiflung, ja der Hysterie. Die elf Tänzer des Staatsballetts agieren dabei als gut aufeinander abgestimmte, hoch dynamische Einheit. Shale Wagman beeindruckt mit Pirouetten von atemberaubender Geschwindigkeit, und Severin Brunhuber gestaltet sein Rollendebüt mit großem emotionalen Ausdruck. „Es ist ein Weinen in der Welt“ – aus dem Off rezitiert eine flüsternde Stimme Else Lasker-Schülers Gedicht „Weltende“: „Und der bleierne Schatten, der niederfällt, / Lastet grabesschwer“. Es ist eine entseelte Welt („als ob der liebe Gott gestorben wär“), die Marco Goecke hier zeigt. Ein beklemmender Eindruck. Zwischen Dawson und Goecke stehen Ratmanskys „Bilder einer Ausstellung“. Modest Mussorgskis berühmter Klavierzyklus (kraftvoll und farbenreich gespielt von Dmitry Mayboroda) empfindet nach, wie der Besucher einer Ausstellung von Gemälde zu Gemälde schreitet und so unterschiedlichsten Eindrücken ausgesetzt wird. Ratmanskys künstlerischer Ansatz ist ähnlich: Wie Mussorgski sich von den Bildern Viktor Hartmanns zu ganz eigenen Klängen inspirieren ließ, so lässt sich nun der gefeierte, in St. Petersburg geborene Choreograph von Mussorgskis urwüchsiger Musik zu seinem Ballett anregen, ohne sie einfach tänzerisch nachbuchstabieren zu wollen. Dabei erweist es sich als erstaunlich stimmig, dass Kandinskys Farbstudie „Quadrate mit konzentrischen Ringen“ als Hintergrund aufscheint, wobei zunächst ein Gesamteindruck, dann verschiedene Details in Projektionen sichtbar werden. Dass die Tänzer sozusagen ein Teil dieses Ganzen sind, zeigen die filigranen Kostüme von Adeline André, indem sie einzelne Farben aufgreifen und paarweise aufeinander beziehen. Ratmanskys Gesamtkunstwerk überzeugt auch dank sehr guter Tänzer wie António Casalinho oder Maria Baranova. Ein starker, abwechslungsreicher, kurzweiliger Ballett-Abend.
Zehn Jahre vor Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“ hatte 1886 Verdis fünfaktige Fassung seines „Don Carlo“ Premiere. Auf diese Version griff Jürgen Rose bei seiner Inszenierung im Jahr 2000 an der Bayerischen Staatsoper zurück, wobei er das Finale des vierten Aktes aus der Urfassung von 1867 übernahm und so eine eigene Version dieses auf Schiller zurückgehenden Stoffes schuf. Das überwiegend schwarze Bühnenbild lässt die historisierenden, hervorragend gearbeiteten Kostüme sehr gut zur Geltung kommen und schafft eine konzentrierte Atmosphäre. Es sind große, eindrucksvolle Tableaus, die Roses Inszenierung sehenswert machen, weniger eine genau gearbeitete, psychologisch exakte Personenführung. Verdis Musik kann sich in diesem Rahmen wundervoll entfalten. Andrea Battistoni, 1987 in Verona geboren, leitet das großartige, erst zum Orchester des Jahres gekürte Bayerische Staatsorchester mit Schwung und Liebe zum Detail. Er treibt den energiegeladenen satten Klang vorwärts und lässt doch immer wieder sprechende Details zum Beispiel in den Holzbläserstimmen aufleuchten. Die Sänger weiß er sicher und straff durch den Abend zu führen. Nur Dmitry Belosselskiy behaart als Phillip immer wieder auf eigenen, etwas zähen Tempi, wodurch sein „Ella giammai m’amo“ leider an Intensität verliert. Angeführt wird ein insgesamt sehr gutes Ensemble vom kraftvollen Mezzo-Sopran der Clémentine Margaine als Eboli. Ihr ebenbürtig zur Seite steht Igor Golovatenko, der mit warm fließendem Bariton den Posa singt. Stephen Costello verausgabt sich in der Titelpartie im ersten Akt allzu sehr, so dass seine schöne und klar geführte Tenorstimme im Laufe des Abends schwächer wird, dafür aber an Nuancen gewinnt. Er zeigt Carlo überzeugend als eine gebrochene, seelisch instabile Figur, die sich aufreibt zwischen Liebe und Pflichtbewusstsein. Ana Maria Martinez, eingesprungen für die leider erkrankte Krassimira Stoyanova, bleibt als Elisabeth ein wenig blass und dünn in den Höhen, wobei das eher dunkle, verhangene Timbre ihrer Stimme durchaus zur Rolle der unglücklichen Königin passt.
Zwei starke Wiederaufnahmen. Sie machen Lust auf diese neue Spielzeit im hoffentlich auch weiterhin ordentlich geheizten Nationaltheater, das Wärme und Schönheit, Anregung und Freude spenden möge in trüben Tagen.