Außenseiter an der Scala
„Peter Grimes“ und „Onegin“ begeistern in Mailand
Mailand, 5. November 2023, Christian Gohlke
Der Krieg war gerade einmal einen guten Monat zu Ende, als Benjamin Brittens Oper „Peter Grimes“ im Juni 1945 in London uraufgeführt wurde. Der Erfolg war groß, und der junge Komponist wurde als neuer Stern am gar nicht besonders reich bestückten Himmel britischer Komponisten gefeiert. Dabei erzählt Britten eine durch und durch düstere Geschichte: Ein Lehrling des Fischers Peter Grimes ist zu Tode gekommen. Grimes wird angeklagt, aber ohne Untersuchung freigesprochen. Ein Außenseiter bleibt der schroffe, schwer zu greifende Mann gleichwohl. Daran ändert nicht einmal die Liebe Ellens zu ihm etwas, die ihm unerschütterlich vertraut und durch ihre Zuneigung retten möchte. Auch ein neuer Lehrjunge zeigt schon bald deutliche Anzeichen von Gewalt und, so muss man vermuten, wohl auch weitergehender Misshandlung. Als der Junge von einer Ausfahrt bei unwirtlich-bedrohlichem Wetter nicht mehr zurückkommt, ist für die aufgebrachte Menge klar, wer der Schuldige ist. Und Grimes, der dem Wahnsinn nahe steht, befolgt schließlich den Rat, den man ihm gibt. Er setzt seinem Leben bei Wind und Wetter draußen auf dem tosenden Meer ein Ende – im Dorf nicht viel mehr als eine Randnotiz. Montagu Slater ist mit diesem Libretto ein außergewöhnlich intensives Portrait eines zerrissenen, ambivalenten Außenseiters gelungen, das gerade heute in Zeiten klarer Urteile und ständiger Vereinfachung anrührt, zumal Brittens eher spätromantische, hoch expressive, zugleich aber süffige Musik die emotionalen Befindlichkeiten der beiden Protagonisten Peter und Ellen farbenreich ausleuchtet.

An der Mailänder Scala, wo das Werk seit 1947 erstaunlich oft zu sehen war, ist nun die bereits fünfte Neuinszenierung zu erleben. Robert Carsen erzählt die Geschichte gut nachvollziehbar in starken Bildern und mit präziser Personenregie in einem Setting von Gideon Davey, das zwar heutig ist, aber die Szenerie am Meer durchgehend beibehält: Ein Raum mit dunklen Holzpaneelen, über denen auf weißem Grund dezente Videoprojektionen eine maritime Atmosphäre evozieren. Carsen geht es nicht um eine spektakuläre Neudeutung, sondern um das glaubhafte, auch anrührende Entfalten der Handlung. Dafür stehen ihm Sänger zur Verfügung, die auch schauspielerisch überzeugen. Brandon Jovanovich zeigt Peter Grimes als schroffe Gestalt, lässt aber auch ihre Einsamkeit und Verzweiflung spürbar werden, ganz besonders deutlich in der packenden Auseinandersetzung mit seinem Schiffsjungen (Tommaso Axel Versari) im zweiten Akt. Dass sein sonst sehr kraftvoller Tenor hier gelegentlich brüchig wurde und Anstrengung verriet, erschien darum nicht als Schwäche, sondern als intensive Rollengestaltung. Auch die Ellen der Nicole Car war mit sicher geführter, ein wenig einfarbiger Stimme eine glaubhaft liebende Figur, die vergebens versucht, diesen seltsam unbehausten Mann durch ihre Liebe zu retten. Ein stimmstarker Ólafur Sigurdarson als Balstorde und Margaret Plummer als spielfreudige Auntie ergänzten das sehr stimmige Ensemble, das von Simone Young sicher durch den Abend geführt wurde. Young zeigte zudem ein gutes Gespür für die Dramatik der Partitur einerseits, kostete aber auch die klangsinnlichen und elegischen Passagen der orchestralen Zwischenspiele mit dem hellwach musizierenden Orchester der Scala aus.

Ganz anders klang das, leider, drei Tage später, als John Crankos „Onegin“ zum ersten Mal in dieser Spielzeit aufgeführt wurde. Mag also sein, dass die Zeit zum Proben arg knapp war. Jedenfalls gelang es Simon Hewett, der ja ein erfahrender Ballett-Dirigent ist, nur schwer, die Musiker im Graben zu animieren. Arg bräsig und breit erklang an diesem Abend Tschaikowskys Musik im beeindruckenden Arrangement von Kurt-Heinz Stolze. Doch so schwerleibig die Musik im Graben war, so leichtfüßig agierten die großartigen Tänzer auf der Bühne.

John Crankos längst zum Klassiker gewordenes Handlungsballett, 1965 in Stuttgart uraufgeführt, überzeugt vor allem durch die psychologische Feinzeichnung der Choreographie. Ein Außenseiter steht auch hier im Mittelpunkt. Aber Onegins Leben ist doch ganz anders als das von Peter Grimes. Im Garten Larinas begegnet er Tatjana zum ersten Mal, und gleich verliebt sich das Mädchen in ihn. Anders als ihre lebenslustige und zupackende Freundin Olga (Martina Arduino), zieht sich Tatjana lesend in eine Welt der Phantasie zurück. Beim Fest, das die Tänzer der Scala mit Verve zu gestalten wissen, hält sie sich zurück. Aber dann erblickt sie Onegin. Er flirtet ein bisschen mit ihr, doch seine endlosen Pirouetten lassen ahnen, dass sein Leben buchstäblich nur um sich selber kreist und dass dieser Mann sich selbst genug ist. Roberto Bolle zeichnet eine Figur, die dem Leben mit ironischer Gleichgültigkeit gegenübersteht. Bolle, seit vielen Jahren Star der Scala und in Italien schon fast eine nationale Figur, tanzt noch immer mit bezwingender Geschmeidigkeit. Vielleicht sind seine Sprünge nicht mehr so hoch und so weit wie ehedem, aber man glaubt ihm jede seiner Gesten. Tatjana verfällt ihm buchstäblich, obwohl für hellsichtige Beobachter klar ist, dass mit einem solchen Mann eine echte Partnerschaft kaum möglich sein wird. Großartig gelang die zentrale Briefszene, in der Cranko es verstand, die Gefühle, Wünsche und Sehnsüchte Tatjanas anschaulich werden zu lassen, indem das, was in ihrem Inneren spielt, als eine Art von Traumvision tänzerischen Ausdruck findet. Roberto Bolle und Nicoletta Manni harmonieren hier besonders gut, auch die technisch schwierigen Hebefiguren gelingen ausgezeichnet. Doch so beglückend diese im Traum erfahrene Haupterhebung Tatjanas ist, so schmerzlich ist der Absturz in die tiefen der Wirklichkeit. Als Tatjana Geburtstag feiert, zerfetzt Onegin den Brief mit dem Liebesgeständnis, das sie an ihn richtete, und macht damit ihre Mädchenträume zunichte. Der Flirt mit Freundin Olga, den Onegin nicht aus Neigung anfängt, sondern halb aus Mutwillen und halb, um seiner Verehrerin auch die letzten Illusionen zu nehmen, kränkt deren Verlobten Lenski derart, dass er den alten Freund zum Duell fordert. Nicola del Freo zeigt Lenski als zugleich lyrischer und leidenschaftlicher als Onegin selbst. Nur beim großen Monolog am Morgen vor dem Duell hätte man sich vom technisch souveränen Tänzer ein wenig mehr Ausdruck gewünscht. Es kommt, wie es kommen muss: Im Duell fällt der unglückliche Lenski. Jahre vergehen, bis Tatjana und Onegin sich wiedersehen. Das Mädchen ist zur Frau herangereift, wie Nicoletta Manni durch nobel gerundete, perfekt sitzende Gesten zeigt. Die Ehe mit Gremin (Gabriele Corrado mit makelloser Technik) ist nicht von Leidenschaft, aber von stabiler Zuneigung getragen, wie der großen Pas de deux im dritten Akt veranschaulicht. Auch Onegin ist nicht mehr der Alte. Aus dem blasierten Burschen von einst ist ein unbehauster Mann geworden, der nicht weit vom Hagestolz entfernt ist. Dass es Roberto Bolle und Nicoletta Manni gelingt, diese Wandlung ihrer Figuren darstellerisch zum Ausdruck zu bringen, ist bemerkenswert. Ihre letzte Begegnung ist der dramatische Höhepunkt des Abends. Die Rollenverteilung hat sich verkehrt: Jetzt ist Onegin der Werbende, und nur unter größter Willensanstrengung gelingt es Tatjana, ihn schließlich von sich zu weisen. Verzweifelt stürzt Onegin aus ihrem Gemach, sie bleibt im Zustand seelischer Zerrüttung zurück. Die Musik rauscht auf, der Vorhang fällt. Großer, langanhaltender Applaus vom eleganten Mailänder Publikum für einen starken Ballett-Abend.