Barenboim und Argerich auf den Spuren eines Suchenden
Barenboim und Argerich auf den Spuren eines Suchenden
Berlin, 14. September 2021, Raphael Haghuber

Robert Schumann liebte das Offene und suchte Experimente in seinen Kompositionen. Romantik verstand er als das Nicht-Abgeschlossene, was sich vor allem in seinem Klavierwerk deutlich manifestiert, das sich von der Sonate als geschlossener Form abwendet, um stattdessen Einzelwerken und Zyklen von programmatischer Füllung den Vorzug zu geben. Poesie war dem Komponisten wohl Inspiration und Auftrag zugleich; ein Anspruch, der sich am besten in den kleineren Gattungen realisieren ließ, da diese mehr Freiheit ermöglichten. Die größeren Formen hingegen brachten spätestens seit Beethovens Symphonien und Klavierkonzerten hohe Erwartungen mit sich. Aber nicht nur der lange Schatten Beethovens mag Schumann gehemmt haben, sich mit den etablierten Genres zu befassen. Die Frage, die sich ihm als Romantiker gestellt haben mag, ist wohl eher diejenige nach den Möglichkeiten und Grenzen der Freiheit und Individualität des künstlerischen Ausdrucks innerhalb solch starr anmutender musikalischer Architekturen, wie beispielsweise dem typischen Aufbau einer Symphonie. Doch Schumann hat sich nach frühen Versuchen doch noch zu vier Symphonien und einem Klavierkonzert durchgerungen.

Das erste Abonnementkonzert der Berliner Staatskapelle in der Saison 2021/2022 bot mit einem reinen Schumann-Programm die Chance zu erfahren, wie produktiv und eigenwillig der Komponist mit diesen zwei Kompositionsformen umgegangen ist.

Das erste Werk, das die Staatskapelle unter Daniel Barenboims Stabführung zu Gehör brachte, war die Erste Symphonie, die den „Frühling“ im Beinamen trägt. Dabei hat man es allerdings weniger mit einer „Verklanglichung“ pastoraler Stimmungen zu tun, selbst wenn Schumann zunächst programmatische Titel für die vier Sätze erfand. Vielmehr steht der Frühling für einen Aufbruch, auch für einen persönlichen: Der Komponist stellte diese Symphonie 1841 in kurzer Zeit fertig; sie geriet bei ihrer Uraufführung zu einem der größten Triumphe Schumanns. Das einleitende Andante un poco maestoso hebt mit einer Blechbläserfanfare an, aus der letztendlich ein Allegro molto vivace erwächst. Die Fanfare gelingt leider nicht tonschön und präzise genug, aber später verstehen es Barenboim und seine Musiker, die Lebendigkeit des Satzes mit Schwung einzufangen. Obwohl Daniel Barenboim einer der profiliertesten Anwälte des symphonischen Werks Schumanns ist (nachzuhören in seiner großartigen Einspielung mit demselben Orchester bei Teldec), wird man dennoch den Eindruck nicht los, dass der erste Programmpunkt des Abends bisweilen wie zum Aufwärmen gespielt wird. Nach gut einer Hälfte des einleitenden Satzes, wenn der große Aufschwung des ganzen Orchesters als Reprise der Fanfare erfolgt, fällt beispielsweise das Tempo auseinander. Das verwundert angesichts der Tatsache, dass es sich um das zweite Konzert mit dem identischen Programm innerhalb von drei Tagen handelt. Schade, ein verschenkter Moment. Besser gelingen die dynamischen Schattierungen und rhythmischen Eigenheiten des Larghettos, das nie manieriert klingt, den vielen Trillern und Sforzati zum Trotz. Am Ende des langsamen Satzes kreieren die Orchestermusiker zusammen mit dem Dirigenten überzeugend den Eindruck eines musikalischen Fragezeichens. Attacca geht es weiter in das spannend komponierte Scherzo mit seinen schroffen und unerbittlichen Kanten, in das ein flüchtig wirkendes Trio eingebettet ist. Barenboim geht, was das Grundtempo anlangt, etwas behäbig zur Sache, was die Schärfen der Komposition bisweilen einebnet. Im Finale steigern sich alle Beteiligten dann doch mit Verve und Virtuosität, um die Symphonie zu einem beeindruckenden Abschluss zu bringen.

Danach betritt diejenige Frau die Bühne, die für viele im Publikum wohl die Raison d'être des Konzertabends darstellte: Die argentinische Ausnahmepianistin Martha Argerich, die wiederum zu den meistgeliebten Interpreten des einzigen Klavierkonzerts Schumanns zählt. In regelmäßigen Abständen belegten Aufnahmen, zuletzt vor allem Live-Mitschnitte, ihre intensive Auseinandersetzung mit diesem so eigentümlichen Werk. Ursprünglich schrieb der Komponist nur den ersten Satz als eigenständige „Phantasie für Klavier mit Begleitung eines Orchesters“. Erst 1845, nach einem Jahr der schweren Depressionen, erweiterte er es zu einem regulären Klavierkonzert um zwei weitere Sätze, knüpfte aber auch in diesen an den kammermusikalischen Charakter der Phantasie an. Dieses Werk ragt aus der Reihe der romantischen Klavierkonzerte schon allein dadurch heraus, dass es die Abkehr vom damals gängigen Virtuosenkonzert darstellt und stattdessen traumverlorene Intimität und die Fähigkeit des Zusammenspiels über das Protzen mit solistischer Brillanz stellt. Vielleicht behagt es Martha Argerich genau deswegen so sehr, denn trotz ihrer auch im hohen Alter immer noch atemberaubenden Technik ist sie ein eher scheuer Mensch, vermeidet Solo-Auftritte und umgibt sich lieber mit kammermusikalischen Partnern oder eben Orchestern. Und mit Barenboim am Pult, der selbst Pianist ist, sind hier ideale Voraussetzungen für einen innigen Dialog zwischen dem Klavier und allen anderen Musikern geschaffen. Argerichs unprätentiöses Auftreten täuscht nicht lange darüber hinweg, dass ihr donnernde Akkorde und perlende Läufe ebenso zu Gebote stehen wie zartes, verträumtes Singen. Hier ist eine einfühlsame Poetin ersten Ranges am Werk, die ebenbürtige Partner im Orchester vorfindet, selbst wenn die Interaktion nicht immer perfekt gelingt. Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass gerade dieses Klavierkonzert durch seine kammermusikalischen Anforderungen sehr schwer zu realisieren ist. An diesem Abend gelingt es allen Beteiligten, ein poetisches Fließen zu erzeugen: Im Allegro affettuoso entsteht beispielsweise der Eindruck von Ebbe und Flut, so organisch atmend harmoniert man auf dem Podium. Das folgende Intermezzo, in dem ein Motiv natürlich aus dem vorherigen erwächst, liegt die Hauptstimme selten beim Klavier, was Argerich ermöglicht, auch als einfühlsame Begleiterin zu glänzen; zart, ohne Kitsch, nimmt der Satz Gestalt an. Insgesamt hätte diesem Andantino grazioso jedoch gut gestanden, wenn man den Aspekt des Flüchtigen, des Hingetupften noch stärker betont hätte. Das abschließende Allegro vivace zeigt alle Beteiligten von ihrer besten Seite. Die Lust am Spiel und am Verspielten ist beinahe im Raum zu greifen. Und so erweist sich Martha Argerich erneut als eine der faszinierendsten Interpreten dieses Klavierkonzerts. Tosender Applaus und stehende Ovationen begleiten sie aus dem Saal.

Nach der Pause steht Schumanns Zweite Symphonie zur Debatte, die eigentlich seine dritte hätte werden müssen (die heute als Vierte Symphonie gezählte wurde davor komponiert). Der Komponist äußerte sich folgendermaßen zu ihr: „Die Symphonie schrieb ich im Dezember 1845 und noch krank; mir ist´s, als müsse man ihr dies anhören.“ Mit der angesprochenen Krankheit meinte Schumann seinen vollständigen psychischen und physischen Zusammenbruch am Ende eines depressiven Zustands. Und tatsächlich scheint dieses Werk den inneren Kampf zu zeigen, den Licht und Schatten in ihm führten. Die ganze Symphonie hindurch fragt man sich, wohin sie will, was ihre Perspektive ist. Schon im ersten Satz erzeugen Barenboim und die Staatskapelle Berlin durch fast zwanghaft perpetuierende Rhythmen eine ruhelose und gequälte Stimmung. Ein überraschenderweise an zweiter Stelle stehendes Scherzo bringt uns dann völlig aus dem Konzept: Das Orchester begeistert durch fieberhaft flirrende Streicherfiguren, alles stürmt und drängt. Der Dirigent arbeitet die harten Kontraste zwischen dem Scherzo und den beiden Trios prägnant heraus, ohne jedoch den Gesamtzusammenhang zu gefährden. Im dritten Satz, einem dunkel tönenden Adagio espressivo, gelingt es Barenboim und der Staatskapelle, ambivalente Seelenzustände musikalisch erfahrbar zu machen; das beeindruckt unmittelbar, denn nicht alle Interpreten haben den Mut, das Zweifeln Schumanns zu zeigen. Der letzte Satz birgt die Gefahr, dass man in ein virtuoses Dauerfeuer verfällt, doch an diesem Abend wurde sie erfolgreich gebannt: Barenboim disponiert den Parcours des Allegro molto vivace so vorausschauend, dass tatsächlich der musikalische Sieg über die Zweifel und Ambivalenzen erst ganz zum Schluss geschieht. Das Orchester ringt sich hier förmlich zum Triumph durch, der somit zu einem wirklich beglückenden Ereignis gerät.

Barenboims Schumann zeichnet sich insgesamt durch eine große Linie, Schwung und Ausdruckskraft aus, was teilweise auf Kosten der Details oder der Präzision geht. Aber wichtig ist gerade bei diesem Komponisten – zahlreiche Dirigenten glaubten, in seinen symphonischen Werken herumpfuschen zu müssen – die unbedingte Liebe zu dem, was in der Partitur steht. Diese Liebe zum Komponisten eint Daniel Barenboim und Martha Argerich, die an diesem Konzertabend den Romantiker Schumann auf mitreißende und ergreifende Weise zu Wort kommen ließen.