Barockmusik bei den Innsbrucker Festwochen
Die Innsbrucker Festwochen warten mit barocken Entdeckungen auf
Innsbruck, 6. August 2022, Michael Bordt SJ

Ich gestehe: Carl Heinrich Graun war mir bisher kaum bekannt. Dass er Hofkomponist von Friedrich II. in Berlin gewesen ist, dass mit einem seiner Werke 1742 sogar die Königliche Hofoper Unter den Linden eingeweiht wurde, er weit über 30 Opern komponiert hat und damit neben Johann Adolf Hasse der bedeutendste Opernkomponist Preußens seiner Zeit war, dürften nur wenige wissen. Welch eine Entdeckung, nun bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik 2022 bei der Aufführung seines Drama per Musica „Silla“ von 1753 dabei gewesen zu sein!

Die Handlung ist schnell erzählt. Ottavia ist unsterblich in Postumio verliebt, und diese Liebe beruht auf Gegenseitigkeit. Alles kein Problem, möchte man meinen, wenn da nicht Silla wäre, der römische Diktator Sulla also, der ebenfalls ein Auge auf Ottavia geworfen hat. Und der natürlich meint, er hätte jedes Recht der Welt, sich die Liebe seines Lebens mit Gewalt zu erobern. Mit auf seiner Seite hat er den Schurken Crisogono, der Ottavia in den Palast von Silla entführen lässt. Auch Ottavias Mutter ist klar der Meinung, ihre Tochter solle nicht so rumzicken und sich dem Diktator fügen. Dass Ottavia dann am Ende doch ihren Postumio bekommt, liegt daran, dass Silla in einem Läuterungsprozess über drei Akte hinweg in wunderschönen orchesterbegleiteten Rezitativen und Arien zu der Einsicht kommt, Liebe könne man nicht erzwingen. Zu dieser Erkenntnis verhilft ihm auch der römische Senator Metello, der kurz davor ist, seine Freundschaft zu Silla aufzukündigen, weil er so gar nicht richtig findet, wie dieser sich in Liebesdingen verhält. Wie dem auch sei: Im rauschenden Finale erklärt der Gewaltmensch den überraschten Bürgern und Senatoren, die Herrschaft ablegen und sich ins Privatleben zurückziehen zu wollen, um sich nur doch der Weisheit zu widmen.

Die Musik von Graun ist ganz italienisch mit großen Melodiebögen und hoch virtuosen Gesangspartien. Vielleicht ist sie nicht ganz so expressiv wie in manchen Händelopern, und sie ist auch nicht ganz so abwechslungsreich in ihrem eher eleganten, manchmal beinahe höfischen Stil. Auch wenn es dramatische Szenen gibt, so fehlt ihnen doch die Ekstase und vielleicht auch die psychologische Tiefe anderer Barockopern. Grauns Musik ist deswegen aber nicht weniger unterhaltsam. Und sie erfordert Sängerinnen und Sänger, die absolute Experten im Barockgesang sind.

Damit konnte man in Innsbruck aufwarten, was gar nicht so einfach ist, denn Graun hat vier große Partien mit Kastraten besetzt, so dass eine Aufführung heute vier Countertenöre verlangt. Bejun Mehta glänzt in der Titelpartie, man kann es gar nicht anders sagen. Seine Fähigkeit, jeder Phrase, manchmal sogar jedem Ton, einen eigenen Ausdruck zu geben, bei den vielen Wiederholungen immer wieder im Klang zu wechseln, souverän über der Partie zu stehen, so dass er wirklich gestalten und interpretieren kann, hebt ihn von den anderen Sängern ab. Dabei bewältigen auch die restlichen drei die enormen technischen Schwierigkeiten problemlos. Aber Valer Sabadus in der Partie des Metello blieb dann doch eindimensional im musikalischen Ausdruck. Er hat eine schöne, warme Stimme, die nur in der Höhe etwas enger wird. Aber sie ist leider auch wenig nuanciert in den Farben und klang am Premierenabend etwas belegt. Auf Samuel Marino als Postumio war ich besonders gespannt. Er ist kein Falsettist, sondern hat seine Knabenstimme erhalten und singt die Sopranpartie mit seiner Bruststimme. Mich hat vor allem das wunderbar tragende Piano seiner hellen, kraftvollen Stimme begeistert. Eine Überraschung war der mir bisher unbekannte Hagen Matzeit. Nunja, er wird ja, anders als Valer Sabadus und Samuel Marino, auch nicht von Plattenfirmen gehypt... Aber seine ausgesprochen kultivierte, edle Stimme ist ideal, um dem auf Ausgleich bedachten römischen Senator Lentulo Ausdruck zu geben.

Nun lebt die Oper natürlich nicht nur von den vier Männern, sondern vor allem von der neben Silla zweiten großen Hauptpartie, von Ottavia. Eleonora Bellocci brillierte in der Partie mit ihrem durchaus ausladenden dramatischen Sopran, der dennoch stilsicher geführt wird. Sie kann kokett und lässig mit den Koloraturketten spielen aber auch mit angemessenem Vibrato der Verzweiflung Ausdruck geben. Für ihre große Arie „Parmi… ah no!“ hat ihr Graun dann auch wahrhaft dramatische Musik geschrieben. Roberta Invernizzi als ihre Mutter hat demgegenüber beinahe etwas Mühe. Sie hat eine sehr schöne, warme Stimme, aber nicht immer vollständige Kontrolle über die Dynamik, was dazu führt, dass manche Töne in einer Melodie merkwürdig verschwinden können. Der Tenor Mert Süngü hat die dankbare Aufgabe des Bösewichts, und die wahnwitzigen Koloraturen seiner großen Arie „Invan mortale ardito“ meistert er zur Begeisterung des Publikums perfekt.

Der eigentliche Star des Abends aber war das Innsbrucker Festwochenorchester unter der Leitung von Alessandro De Marchi. Schon die beschwingt gespielte Ouvertüre machte trotz einiger Wackler im Blech Lust auf die Musik. Die großen orchesterbegleiteten Rezitative mit ihren Stimmungs- und Tempowechseln gelangen perfekt. Die Continuogruppe spielte farbig und ausdeutend, obwohl sie mit zwei Theorben, zwei Celli und zwei Cembali nun gar nicht so üppig besetzt ist. Das Herz der Gruppe ist Chiara Cattani am zweiten Cembalo, die mit ansteckender Spielfreude die Protagonisten auf der Bühne begleitet.

Dass die Oper in schön anzuschauenden historisierenden Kostümen und einem ebensolchen Bühnenbild von Julia Dietrich von dem Regisseur Georg Quander eher bebildert als inszeniert wurde, ist der einzige Wermutstropfen in dieser Aufführung. Theatralische Gesten, die man eigentlich schon von der Opernbühne verbannt dachte, feierten ein unwillkommenes Comeback, wildes Rumfuchteln des Chores wirkte albern und erzeugt nun wirklich keine Dramatik. Während der langen Arien stehen die anderen Protagonisten oft teilnahmslos auf der Bühne herum oder schreiten von einer Ecke zur anderen. Schade. Das war wirklich provinziell. Langer Jubel derjenigen, die in der Premiere bis zum Ende durchgehalten haben. Und man fragt sich etwas ratlos, was das Marketing der Festwochen eigentlich falsch macht, denn die Oper war nicht einmal ausverkauft.

Am Abend danach bin ich auf das Schloss Ambras gefahren und habe mir in dem wunderschönen Spanischen Saal ein „Concerto delle donne“ angehört. Dieses Mal war der Saal gesteckt voll. Aufgeführt wurden Madrigale, die ein Fürst aus Ferrara seiner Frau zum Geschenk gemacht hat. An vielen Abenden sangen die besten Sängerinnen in einer Privataufführung die „Madrigali segreti“ und erst nach einigen Jahren erlaubte der Fürst, ausgewählten Komponisten wie Monteverdi oder di Lasso den Zutritt zu der Musik. Margret Köll, eine Tiroler Harfenistin, begleitete mit ihrem Ensemble „Between the Strings“ drei Sängerinnen, Dorothee Mields, Barbara Zanichelli und Marie-Claude Chappuis. Gesungen wurden ein-, zwei- und dreistimmige Madrigale von bekannteren Komponisten wie Monteverdi und Caccini, aber auch unbekannteren wie Luzzasco Luzzaschi oder Luigi Rossi. Zwischen den Madrigalen, die manches Mal ineinander übergingen, standen immer wieder auch sehr feine Instrumentalstücke. Während sich zu Beginn die Sängerinnen erst aufeinander einstimmen mussten, so dass ich schon auf den Gedanken kam, es hätte an Probenzeit gefehlt, änderte sich das Zusammensingen von Stück zu Stück und wurde immer fließender und einheitlicher. Und auch wenn alle Madrigale von dem Schmerz und den Wonnen der Liebe handeln, war es ein abwechslungsreicher und vergnüglicher Abend. Die Festwochen in Innsbruck laufen noch bis Ende August. Jedem, dem Barockmusik am Herzen liegt, kann ich eine Fahrt nach Innsbruck nur wärmsten empfehlen.