Beethovens „Fidelio“ (1805) an der Wiener Staatsoper
Beethovens frühe Fassung des „Fidelio“ in einer Neuproduktion von Amélie Niermeyer an der Wiener Staatsoper
München, 1. Februar 2020, Christian Gohlke

So klare Missfallensbekundungen sind inzwischen selten geworden. Dass ein Publikum nach einer Opern- oder Theaterpremiere wütenden Protest äußert, wie es vor etlichen Jahren an fast allen großen Häusern durchaus noch üblich war, kommt heute kaum noch vor. Sind die Zuschauer offener für Neues geworden, intelligenter, aufnahmefähiger? Oder wird inzwischen auch der größte Unsinn schweigend hingenommen, weil niemand in den Ruch der Rückständigkeit geraten möchte? Oder ist es dem Publikum ganz einfach egal, was die Regie aus den kanonischen Werken macht, weil sie gar nicht mehr so genau gekannt und geliebt werden? Wie dem auch sei: In Wien zeigte das Premierenpublikum sein Missvergnügen an der Inszenierung Amélie Niermeyers sehr deutlich.

Doch warum wurde gerade diese Produktion von Beethovens erster Fassung des „Fidelio“ aus dem Jahr 1805 mit so wütendem Protest quittiert? Zunächst einmal ist es ja eine schöne und stimmige Idee, diese frühe Fassung gerade im Beethoven-Jahr auf den Spielplan zu setzen und mit dem „Fidelio“ von 1814 in der schönen, noch immer sehenswerten Inszenierung von Otto Schenk (1970) zu konfrontieren. Seitdem Willy Hess 1986 in seinem Fidelio-Buch zum ersten Mal alle drei Fassungen der Oper vorstellte, ist klar, dass die erste davon keineswegs nur eine noch nicht so ganz gelungene frühe Variante des „Fidelio“ darstellt, sondern als Werk durchaus neben der großen Schwester bestehen kann. Dominique Meyer, seit 2010 Intendant der Wiener Staatsoper, hat das früh erkannt und sich immer wieder dieser Oper angenommen, zuerst in Lausanne, später in Paris und jetzt in Wien, wo die Neuproduktion am 1. Februar an der Staatsoper Premiere hatte.

Dass Niermeyers Inszenierung in einem Einheitsbühnenbild spielt (Alexander Müller-Elmau hat detailreich eine alte Schalterhalle bauen lassen, die stark an den Münchner Hauptbahnhof erinnert), und dass alle Figuren mehr oder minder hässliche Alltagskleidung von heute tragen (Annelies Vanlaere), ist weder originell noch sinnstiftend. In dieser Ausstattung kann heute praktisch jede Oper gespielt werden – „Fidelio“ gerade so gut (oder schlecht) wie „Freischütz“ oder „Fledermaus“. Aber was die Regisseurin in diesem beliebigen Ambiente zeigt, ist doch zumindest des Nachdenkens wert. Niermeyers Regie basiert auf zwei Ideen. Zum einen verdoppelt sie die Rolle der Leonore durch eine Schauspielerin (Katrin Röver), so dass die Figur gleichsam mit sich selbst ins Gespräch kommen und ihre innere Zerrissenheit, ihre Zweifel, Ängste und Nöte artikulieren kann. Dafür mussten neue Dialoge geschrieben werden. Ein heikles Unterfangen, dessen sich Moritz Rinke angenommen hat. Der stilistische Bruch, der nun zwischen gesungener und gesprochener Sprache entsteht, ist kaum zu überhören, und nicht immer leiten die Rinke-Dialoge so organisch zur Musik über, wie das eigentlich sein sollte, aber immerhin fügt sich Rinkes Text einigermaßen unauffällig ein.

Die Rollen-Verdoppelung will Niermeyer aber nicht nur für eine psychologische Vertiefung der Protagonistin nutzen (wobei grundsätzlich gefragt werden muss, ob dieses Anliegen nicht dem mangelnden Vertrauen in die Kraft der Musik geschuldet ist), sondern vor allem, um das Happy End der Oper als bloße Vision Leonores darzustellen. In dieser Inszenierung stirbt Leonore nämlich. Pizarro, den Thomas Johannes Mayer etwas kurzatmig und mit leider zu schwacher Stimme, dafür aber mit großem Einsatz gibt, ersticht sie, nachdem sie sich schützend vor ihren Gatten Florestan gestellt hat.

Alles, was dann folgt, ist nichts als eine Phantasie der Sterbenden oder Gestorbenen. Wo bisher trister Alltag dominierte, erscheint nun alles verwandelt: Ein silbrig schimmernder Vorhang verdeckt die Rückwand der Schalterhalle, und zwischen den Figuren, die jetzt nicht mehr hässliche Alltagskleidung tragen, sondern bunt glitzernde Kostüme, bewegt sich die Schauspiel-Leonore in weit ausgreifenden, freien, fast tänzerischen Bewegungen. Es ist die Vision einer besseren Welt. Das ist in sich durchaus schlüssig inszeniert. Nur: Würde ein solcher Regie-Einfall nicht viel besser zu „Fidelio“ von 1814 passen, als gerade zur frühen Fassung, die insgesamt privater und weniger politisch ist? Den angestrengten finalen Chor-Jubel („Heil sei dem Tag“) kennt „Leonore“ ja noch gar nicht.Eine durchaus fragwürdige Inszenierung also. Aber keine, die handwerklich schlecht gemacht wäre und gedankenlos über den Kern der Handlung hinwegginge. Dass die Wiener Opernbesucher so heftig protestierten, richtet sich wohl grundlegend gegen den Zugriff des Regietheaters, das sich weitgehende Eingriffe in ein Werk erlaubt, das so mehr und mehr zum bloßen Material eines wie immer kreativen Regie-Kopfes degradiert wird. Ein legitimer Protest – den es in dieser Form wohl nur noch in Wien gibt.

So heftig die Ablehnung war, die das Regie-Team traf, so wohlwollend fiel der Applaus für Sänger und Orchester aus. Eine nur geringe Anzahl von Streichern ließ vor allem die sehr schön und sprechend gespielten Holzbläserstimmen der Partitur in den Vordergrund treten. Der Dirigent Tomáš Netopil bevorzugte einen schlanken, etwas aufgerauten Ton mit starken Akzenten in Dynamik und Tempogebung. Vor allem im dritten Akt gelang ihm eine ausgezeichnete Balance zwischen dem homogenen und klangschönen Chor (Einstudierung: Thomas Lang), dem Sängerensemble und dem sehr wach und agil musizierenden Staatsopernorchester. Besondere Anerkennung verdient der Hornist für seine Begleitung der großen Leonoren-Arie im 2. Akt. Gerade, weil sie in der frühen Fassung weit weniger hochdramatisch ist als die wohlbekannte spätere Variante mit dem einführenden Rezitativ „Abscheulicher, wo eilst du hin?“, war Jennifer Davis mit ihrer eher lyrischen, gleichwohl kraftvollen Stimme eine glücklich gewählte Besetzung, die mit den Koloraturläufen am Ende der Arie sehr gut zurecht kam. Das gilt auch für den Florestan des Benjamin Bruns, dessen große Arie in dieser Fassung noch nicht ins Ekstatische ausufert, dafür aber eine fast liedhaft anmutende, seelenvolle zweite Strophe in f-moll („Ach es waren schöne Tage“) aufweist. Bruns, der bewundernswert klar artikulierte, so dass jedes Wort verständlich wurde, hat für diesen Florestan derzeit die genau richtige Stimme, die in einigen Jahren vielleicht auch den dramatischeren 1814-Florestan mit heldischem Timbre zum Glühen bringen wird. Ansprechend waren die kleineren Partien besetzt: Falk Struckmann gab einen kernigen Rocco, Chen Reiss eine hellstimmige Marzelline und Jörg Schneider einen durchdringenden, aber nie quäkenden Jaquino.

Es lohnt, sich diesen frühen „Fidelio“ einmal anzuhören. Und wer nun außer der frühen und der letzten auch noch die mittlere Fassung aus dem Jahr 1806 kennenlernen möchte, hat dazu im März Gelegenheit: Christoph Waltz wird das Stück im Theater an der Wien inszenieren – und dafür vom Publikum vermutlich freundlicher behandelt werden als Amélie Niermeyer gestern in der Staatsoper.