Bergs „Wozzeck“ an der Bayerischen Staatsoper
Alban Bergs „Wozzeck“ an der Bayerischen Staatsoper
München, 23. November 2019, Christian Gohlke
Premiere feierte Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Alban Bergs „Wozzeck“ an der Bayerischen Staatsoper vor ziemlich genau elf Jahren, im November 2008. Jetzt ist seine überzeugende Produktion wieder im Nationaltheater zu sehen.
Kriegenburg hat nicht versucht, die Geschichte zu aktualisieren, vielmehr belässt er die Handlung, sich eng an Büchners Textvorlage haltend, in ihrem, wenn auch nur angedeuteten, historischen Kontext. Keine Hartz-IV-Empfänger sind auf der Bühne zu sehen, sondern „arme Leut“ in abstrahierten historischen Kostümen von Andrea Schraad, die durchgehend gräulich schlammfarben sind. Verwachsen und buckelig, entstellt und abstoßend wirken sie darin alle, der Doktor, der Hauptmann, der Tambourmajor und die dralle Margret, deren künstliche Brüste üppig aus dem Mieder hervorquellen. Auch Wozzeck bewegt sich seltsam gewunden und verquält, mit eckigen, fahrigen Gesten, die sein desolates Innenleben ahnen lassen. Alle scheinen sie deformiert und verunstaltet zu sein von den Verhältnissen, in denen sie zu leben gezwungen sind. Nur Marie und ihr Kind bewegen sich (noch) wie intakte Menschen, wobei der Junge die Gesten und Handlungen der Erwachsenen bereits zu imitieren beginnt. Kriegenburgs Inszenierung arbeitet mit starken, eindrücklichen Bildern, die sich vor allem der Ausstattung von Harald B. Thor verdanken. Seine Arbeit ist keine tiefschürfende Neudeutung, sondern lebt vor allem von optischen Effekten, die sich aber natürlich bei wiederholten Besuchen abnutzen.

Ein Kasten mit schäbigen Wänden und dürftigem Mobiliar schwebt über dem schwarzen, mit Wasser gefüllten Bühnenboden, so dass sich zwei Spielflächen ergeben, die abwechselnd oder gleichzeitig genutzt werden. Die dunklen Gestalten, die unten im Wasser stehen und sich hastig wie hungrige Tiere auf die Essensreste stürzen, die ihnen dann und wann vor die Füße geworfen werden, erzeugen eine beklemmend düstere Atmosphäre der Armut und Verzweiflung. Etwas besser geht es den Figuren, die sich im schwankenden, unsicheren Raum darüber bewegen. Dort rasiert Wozzeck seinen Hauptmann, einen abstoßenden Fettwanst mit Hängebrüsten, den Wolfgang Albinger-Sperrhacke zwar überzeugend darstellt, stimmlich aber zu unscheinbar bleibt. Hier stellt sich Wozzeck auch den menschenverachtenden Untersuchungen des Doktors, der in dieser Inszenierung eine groteske, mit Lederriemen wie notdürftig zusammengebundene Kunstfigur aus dem Gruselkabinett ist und von Jens Larsen mit kraftvoller Stimme eindringlich gespielt wird. Wozzeck nimmt alle seine und des Hauptmanns Demütigungen und Schikanen hin, weil er auf das Geld angewiesen ist, mit dem er Marie und sein uneheliches Kind versorgt. Zum ersten Mal war Christian Gerhaher in dieser Partie in München zu erleben, und man konnte gespannt sein, wie der feine, intellektuelle Liedsänger diese Rolle gestalten würde. Gerhaher fügte sich sehr gut und ohne jeden Manierismus ins Ensemble ein, überzeugte in dieser Partie aber doch nicht ganz. In den tieferen Lagen war seine Stimme an diesem Abend kaum zu vernehmen, und die großen Ausbrüche der Figur hätte man sich kraftvoller, durchschlagender, dunkler gewünscht. Ein idealer Wozzeck ist Christian Gerhaher nicht. Dennoch lohnt es, ihn in dieser Rolle zu erleben, nicht zuletzt, weil er den Wahnsinn und die zunehmende Eifersucht der Figur darstellerisch gut vermittelt. Die Szenen zwischen ihm und Marie waren denn auch die besten des Abends, vor allem, weil Gun-Brit Barkmin stimmlich und schauspielerisch glänzte. Ihre etwas herbe, in den Höhen durchaus schneidende Sopranstimme passt vorzüglich zu dieser Partie, deren Sehnsucht und innere Zerrissenheit sie glaubhaft darstellte.

Dass der Abend trotz dieser großartigen Leistung nicht recht berührte, lag vor allem an Hartmut Haenchen, der mit dem „Wozzeck“ sein spätes Debüt an der Bayerischen Staatsoper gab. Stephan Mösch lobte seine Interpretation in der FAZ dafür, „die komplexe Architektur bis ins Detail der Übergänge“ herausgearbeitet und die „Partitur vom schweren Firnis der Wagner- und Mahler-Tradition“ befreit zu haben. Das ist gewiss richtig. Auch dass Haenchens „Wozzeck“ leicht klinge und „dem Geist von Claude Debussys intrinsischem Farbhauch näher“ stünde „als lastender symphonischer Tradition“, ist treffend bemerkt. Doch was Mösch als Vorzug preist, lässt sich ebenso gut – und womöglich noch besser – als Mangel und Vorwurf begreifen. Bergs Partitur steht doch bei aller Modernität in der Tradition der Spätromantik. Und wer diesen Bezug so radikal kappt, wie Hartmut Haenchen das tut, bleibt der Musik etwas Entscheidendes schuldig, nämlich ihre emotionale Wucht.