Campras „Idoménée“ an der Berliner Staatsoper
Campras „Idoménée“ an der Berliner Staatsoper
Berlin, 5. November 2021, Bernhard Metz

André Campra (1660–1744) ist kein Alter Musik-Geheimtipp. Gardiner hat Messe des Morts/Requiem 1979 für Erato aufgenommen, bei HM gab es zeitgleich von William Christie mit dem Arts Florissants-Ensemble Motetten- und Kantaten-Einspielungen, von Herreweghe 1986 dort ebenfalls das Requiem. Campras Idoménée von 1712, fünfaktige Tragédie en musique mit Prologue ist hingegen relativ unbekannt, anders als L’Europe galante oder Tancrède. Es gibt eine einzige Gesamtaufnahme, 1992 von Christie bei HM publiziert, von der gestrafften Version von 1731. Diese Letztfassung wurde verkürzt am 5. November 2021 unter Emmanuelle Haïm vom Concert d’Astrée an der Staatsoper Berlin uraufgeführt.

Trotz guter Pflege Alter Musik in Berlin nach dem Mauerfall (René Jacobs, Akademie für Alte Musik etc.) stand keine Campra-Oper dort je auf dem Spielplan. Idoménée sollte 2020 die Barocktage eröffnen, wurde pandemiebedingt konzertant ohne Publikum gespielt und im Herbst 2021 bereits in Lille aufgeführt. Höchste Zeit, diese Co-Produktion mit der Opéra de Lille dem Berliner Publikum vorzulegen. Campra kann man nie genug hören, das unfreiwillige Üben hat der Berlin-Uraufführung nur guttun können. Oder?

Als Eröffnung der bis 14. November angesetzten Barocktage passt Idoménée ideal zu anderen Programmpunkten, befriedigt Entdeckerlust, wodurch sich Barockmusik oft auszeichnet. Campras Idoménée, basierend auf einer Crébillon-Tragödie von 1705, ist eine schöne Rarität. Vorzüglich, dass sich die Staatsoper daran gewagt hat. Dass Idoménée im Repertoire verbleibt, ist unwahrscheinlich; dafür ist die Inszenierung von Fura dels Baus-Mitglied Àlex Ollé mit Compagnie Dantzas-Choreographien zu aufwendig.

Der kretische Herrscher Idomeneus, Teilnehmer am trojanischen Krieg, will nach Hause. Zuvor muss er wie andere Troja-Veteranen, von denen Odysseus die längste und aufreibendste Rückkehr hat, Schlimmes erdulden. Von seiner 80 Schiffe umfassenden Flotte bleibt nur sein eigenes übrig. Und nur, nachdem er Poseidon gelobte, diesem das erste Lebewesen, dem er in der Heimat begegnete, zu opfern. Da geht es um göttliche Konkurrenzen, ist Idomeneus doch Athene-Liebling und kämpfte vor Troja auf der falschen Seite. In der Heimat kreuzt der eigene Sohn seinen Weg. Der Schwur muss gehalten, Idamantes geopfert werden; Idomeneus tötet ihn mit seinem Schwert. Keine Chance auf ein glückliches Ende: Die Götter schicken die Pest, der Frevler wird vom eigenen Volk vertrieben, verliert Heimat und Herrschaft.

In Mozarts Idomeneo, re di Creta geht alles besser aus: Weil sich vor lauter Opferwilligkeit alle anbieten, Idamante auszulösen, wird der Meeresgott besänftigt. So kommt aufgeklärte Staatstheorie zum Mythos. Campras Idoménée ist von solchen Überlegungen entfernt, obwohl sich Idamante als mildtätig erweist. Er stirbt, weil Némésis Idoménée mit Irrsinn schlägt. Dieser glaubt ein Opfertier zu schlachten. Zuvor versuchte er erfolglos, die Götter auszusöhnen. Némésis fordert das Menschenopfer zur Stabilisierung der Göttermacht, „à respecter leur suprême puissance.“ Keine demokratischen Aushandlungen. Obwohl Idoménée abdankt, Idamante die Herrscherwürde anträgt und ihm die geliebte Kriegsgefangene Ilione überlässt.

Diese Prinzessin gibt es nur bei Campra, eine Priamostochter aus Troja/Ilion. Sie verstärkt die Konkurrenz zwischen Vater und Sohn und ist auf erotisch-leidenschaftlicher Ebene der triftigere Grund für die missliche Lage. Idamantes Opferung geschieht so abrupt und ist so außergewöhnlich komponiert, dass man ein Fragment vor sich zu haben wähnt. Idoménée wird seine Irrsinnstat bewusst, er will sich das Leben nehmen. Das letzte Wort hat die Kriegsgefangene, die sich schon als Königin sah. Rache für den Untergang der Heimat und Verlust der neuen: „Pour le punir, laissez-le vivre, c’est a moy seule de mourir.“ Souveräne Aneignung des Rechts auf Leben und Tod, die Ilione sich herausnimmt. Sie will sterben, bestreitet dies dem Kriegsgewinner. Kein Schlusschor, kein Finale, nichts. Totenstille.

Das schaurige Ende tut der Schönheit der Komposition kaum Abbruch. Es gibt Auftritte, etwa Liebesarien wie „Quel tourment, quelle peine“, die tief berühren. Campra, Grenzgänger zwischen italienischer und französischer Musik, verwendete unter den Franzosen seiner Zeit (er kam 1660 in Aix zur Welt) am stärksten italienische Ausdrucksmittel. Verband italienische „Vivacité“ mit französischer „Délicatesse“. Vieles ist weniger steif als bei zeitgenössischen Franzosen, anrührender, bewegender. Campra kommt aus der Sakralmusik, wovon Idoménée profitiert; eindrücklich etwa die Anrufung „Ô Neptune, reçoy nos vœux“.

Das kombiniert einen Gipfel der Oper, Vollendung älterer Stile Quinaults und Lullys, mit dem Anspruch völliger Kunstlosigkeit, wie sie im 18. Jahrhundert bedeutsam wird. Auch dafür wurde Campra bewundert, die Natürlichkeit seiner Stimmführungen hervorgehoben. Die Aufführung setzt das um, auch wenn vieles anders klingt als erwartbar. Die zusätzlich den hervorragenden Chor stellende Concert d’Astrée-Formation unter Emmanuelle Haïm (ihrerseits langjährige Arts Florissants-Cembalistin unter Christie) musiziert glatt und luftig; das Rauhe, Scharfe, Ruppige, das mit Barockmusik auch einhergeht, das monströs Repräsentative, die staatstragend-pompöse musikalische Ausstellung von Macht, bleibt selten spürbar. So wird in nahezu klassizistischer Manier musiziert, trotz Originalinstrumenten und eines hörbaren Kenntnisreichtums an historischer Aufführungspraxis. Viel zu schön.

Die abgesagten Premieren, die zusätzlichen Proben, die Lille-Produktion haben ein Übermaß an Professionalität herbeigeführt, Abgeklärtheit. Le Concert d’Astrée feiert während der Barocktage sein zwanzigjähriges Bestehen. Gespielt wird leise und verhalten. Fein, nuanciert, zierlich. Das kommt den Sängern entgegen, die weit in der Bühne stehen und schwer zu vernehmen sind, was die akustisch unvorteilhafte Plexiglas-Bühneneinrichtung mitverschuldet. Ilione etwa beginnt „Espoir des malheureux, plaisir de la vengance“ hinten und ist kaum zu hören, bis sie durch die Kunststoffelemente durchsteigend nach vorne kommt. Lediglich Theatereffekte (Donnerblech, Windmaschine, Tambourin, Rasseln, Pauken, Schlagwerk etc.) stechen laut heraus, durchstoßen die glatte und perfekte Darbietung.

Dass Schicksalsfragen entschieden werden, Götter über Menschenleben und -leid bestimmen, kommt kaum zum Tragen. Prologue und erster Akt geraten distanziert. Dabei enthalten sie Drama genug. Erst als Electre, am kretischen Hof um Hilfe flehend, Idamante Verrat vorwirft, und „Son père ne vit plus“ singt, entsteht Dramatik. Das liegt an der Sängerin Hélène Carpentier, auch am Libretto. Ilione macht den Sohn glauben, sein Vater sei tot. Was diesen an die Küste treibt, wo er dem Unbekannten begegnet, der sich als Idoménée herausstellt.

Große und berührende Wiedererkennungs-Szene zwischen Idoménée (Tassis Christoyannis) und Idamante (Samuel Boden), zart und schicksalsschwanger gesungen. Idomenée weint, als vom Helden Idomeneus erzählt wird; weiß, was folgen wird. Tränen, die der Held über sich und sein Schicksal vergießt. Intensiv, berührend: „Vous sôupirez, vous répandez des larmes. Avez-vous connu ce Héros?“ Auch Idamante hält nichts zurück: „Je ne puis pas retenir mes pleurs.“ Es wird viel geweint.

Nur nicht im Publikum, niemand wird überwältigt. Was Alte-Musik-Aufführungen bestenfalls auslösen, epiphanische Erlebnisse, will sich nicht einstellen. Das liegt nicht an fehlender historischer Informiertheit. Alles wirkt routiniert und gekonnt, mit der Perfektionistin Haïm selbstverständlich. Kann Perfektion musikalisch tödlich sein? Es fehlt an Dramatik, Schrillheit, Präsenz. Überwältigt nie, bewegt selten, erstaunt nicht. Haïm dirigiert kraftvoll, schlägt mit Stab und beiden Armen, von ungeheurer Energie beseelt, steht meist, singt mit, tanzt, verkörpert jedes Moment dieser Oper. Doch von ihrer Begeisterung, bei den besten historischen Musikformationen verbunden mit Glauben an musikalische Missionierungsmöglichkeiten, wird wenig vermittelt.

Dabei tun alle alles Interpretenmögliche; die Tänzer der Compagnie Dantzas fegen zum Prologue sturmgleich über die Bühne, Liebesketten durch Tauverwirrungen anzeigend, der Astrée-Chor wuselt dazwischen, beeindruckende Vermengung von Tanzenden und Singenden, die orgiengleich die Herrschaft der Liebe zum Ausdruck bringen (Choreographie Martin Harriague). Eole hat die Gestalt Idamantes, Vénus die Iliones. Das ist der interessanteste Regieeinfall Ollés, dessen Personenführung und Regie sonst altbacken sind. Alle Götter nehmen menschliche Gestalt an. Wie in der Ilias nehmen die Götter Menschengestalt an, beteiligen sich. Die Peinlichkeit, griechische Götter zu mickrig auf der Bühne zeigen zu müssen, wird umschifft; sie sind wie Menschen.

Die Sänger sind allesamt ordentlich, wenn auch niemand hervorragt. Am besten Carpentier als Electre; hier ist die Trauernde, Hilfsbedürftige, Flehende gut aufgehoben, bringt Wut, Furor, politisches Kalkül zum Ausdruck, manipuliert Idamante, den sie unglücklich liebt, der ihr Ilione vorzieht. Ihre Gegenspielerin in eroticis, gesungen von Chiara Skerath, ist ebenfalls gut besetzt, vermittelt die Verzweiflung der Troierin, die alles verloren hat. Eva Zaïcik als Vénus erfüllt ihre Rolle, singt etwa „Vous, des tendres Amours compagne“ überzeugend. Auch die Männer singen einwandfrei, Enguerrand de Hys den Arcas; Christoyannis gibt einen tiefen und mächtigen Idoménée, Idamante wird von Boden zart und verletzlich verkörpert. Eindrücklich als Eole und Neptune Yoann Dubruque; der Bariton Victor Sicard singt Jalousie und Némesis bissig, stichelnd, Frédéric Caton mit schönem Bass Protée und Arbas.

Wären nicht die Videoprojektionen von Emmanuel Carlier, die barocke Bühnenprospekte, Szenerien oder versinkende Menschen zeigen, wäre diese Bühne (Alfons Flores) so unerträglich wie die Kostüme (Lluc Castells) langweilig. Das Licht (Urs Schönebaum) ist trüb, düster, als würde alles nachts stattfinden. Man ersehnt Feierlichkeit, Pracht, Licht. Selbst zu „Triomphez, remportez une immortelle gloire“ oder zur Krönungsvorbereitung erstrahlt nichts. More Glamour! Idoménées, Idamantes, Arcas’ und Abbas’ Kleidung orientiert sich an dunkelblauer Admiralskleidung; was nicht herrschaftlich wirkt, nur schlecht verkleidet. Als torkelte zum Kapitänsdinner einer Billigkreuzfahrt ein versoffener langhaariger Kapitän herein, der allabendlich Schiffbruch an der Bar erleidet. Electre steckt in weißem JLO-Glitzermantel, so auch Vénus und Jalousie; Sicard wirkt in Strapsen darin wie der Bastardsohn von Frank N. Furter und Riff Raff, Rocky-Crete-Horror-Show. Altkleidercontainer bergen würdevollere Kleidungsstücke. More Taste!

Das Publikum applaudiert trotzdem lange. Campra kann man nie genug hören. Wer nicht drin war, beeile sich trotz allem. Idoménée wird nur im November aufgeführt. Dann vermutlich nie mehr. Es ist zum Weinen.