„Cinderella“ am Bayerischen Staatsballett
„Cinderella“ als bunte Show von Christopher Wheeldon
München, 3. Dezember 2021, Christian Gohlke

„Aschenputtel“, 1812 in Grimms „Hausmärchen“ veröffentlicht, gehört zu den berühmtesten Märchen der Weltliteratur. Auf mündliche Überlieferung, aber auch auf eine Erzählung von Charles Perrault zurückgehend, hat die Geschichte unzählige Künstler zu eigenen Fassungen angeregt. Ein Dutzend Opern (worunter Rossinis „La Cenerentola“ die berühmteste ist), ein Halbdutzend Musicals (darunter eines von Andrew Lloyd Webber) und jede Menge Verfilmungen (36 zählt Wikipedia, die jüngste von 2021) rekurrieren mehr oder minder direkt auf diesen Text. Natürlich hat sich auch das Ballett der Geschichte angenommen, wenn auch nicht mit solcher Leidenschaft wie Film und Fernsehen. Sergej Prokofjew und Nikolai Wolkow haben während des Krieges eine auf Perrault zurückgehende Fassung erarbeitet, die in einer Choreographie von Rostislaw Sacharow 1945 am Bolschoi Theater uraufgeführt wurde. Zu Prokofjews seelisch nicht allzu facettenreicher und mitunter enervierend repetitiver Musik kreierten Christopher Wheeldon und der amerikanische Drehbuchautor und Filmregisseur Craig Lucas eine neue Fassung, die 2012 in Amsterdam zur Uraufführung kam. Sie ist nun auch am Bayerischen Staatsballett zu sehen. Premiere war am 19. November.

Wer Christopher Wheeldons Ballett-Fassung von „Alice in Wonderland“ 2017 gesehen hat, wird seine Handschrift in „Cinderella“ wiedererkennen. Die Geschichte von Aschenputtel, die als Halbwaise bei einer bösen Stiefmutter und garstigen Stiefschwestern aufwächst, dann aber auf einem Ball die Liebe eines Prinzen gewinnt, der sie später mit Hilfe eines zurückgelassenen Schuhes wiederfindet und schließlich zu seiner Braut bestimmt, erzählt der Choreograph gut verständlich, aber auch ein wenig bieder mit einem neoklassischen Bewegungsvokabular, das immer wieder an John Cranko erinnert. Rückblicke oder Zeitüberblendungen, wie sie zum Beispiel John Neumeier meisterhaft einzusetzen versteht, gibt es hier nicht; Wheeldon buchstabiert die Geschichte brav chronologisch nach. Gerade im ersten Akt kommt es daher zu einer gewissen szenischen Kurzatmigkeit, ist doch sehr viel Handlung in sehr kurzer Zeit sozusagen abzuarbeiten. Technisch gelingen die ständigen Verwandlungen im phantasievollen Bühnenbild von Julian Crouch beeindruckend gut, weil mit wenigen Requisiten (ein Kamin, ein Grabstein, ein Baum), stimmungsvollem Licht (Natasha Katz) und einigen Projektionen (Daniel Brodie) unterschiedliche Szenerien geschickt angedeutet werden.

Aber man ist doch froh, dass der zweite Akt mit etwas längerem Atem erzählt wird. In bunten, mitunter schrillen historisierenden Kostümen (wie die Bühnenbilder von Julian Crouch entworfen) glänzt das Ensemble des Staatsballetts auf dem Ball des Prinzen Guillaume und überzeugt durch Schwung und Präzision gleichermaßen. So wird eine prachtvolle Kulisse für die Begegnung der beiden Protagonisten geschaffen. Doch Sofia Ivanova-Skoblikova und Osiel Guneo können als Cinderella und Prinz nicht so recht überzeugen. Die technischen Patzer, die beiden in ihren großen Solo-Auftritten unterlaufen, mögen der Nervosität geschuldet sein. Schwerer wiegt, dass weder bei ihm noch bei ihr – und darauf käme es doch vor allem an – ein glaubhaftes, differenziertes Charakterportrait entsteht. Schon im ersten Akt, wenn Cinderella Blumen ans Grab ihrer Mutter bringt, bleibt Ivanova-Skoblikova zu blass und beliebig im Ausdruck. Auch im großen Finale, wenn vor milkafarbenem Sternenhimmel (weniger wäre hier wohl mehr gewesen) Prinz und Cinderella sich im weitausschwingenden Pas des deux vereinen, wirken beide Tänzer eher vorsichtig verhalten als überschwänglich bewegt.

Mehr als die beiden Protagonisten überzeugt an diesem Abend das sehr gute Ensemble des Staatsballetts und die Besetzungen der kleineren Partien: Da sind zum Beispiel zwei hinreißende Soli gleich im ersten Akt in der Traum-Sequenz Cinderellas, in der Shale Wagman mit starker Bühnenpräsenz und beeindruckender Technik als Geist der Großmut und später Elvina Ibraimova als filigraner Geist des Geheimnisses in einem anmutigen Reigen der Jahreszeiten auftreten. Da sind natürlich auch Vera Segova und Margarita Fernandes, die ihre Partien als giftige Stiefschwestern ebenso lustvoll gestalten wie Maria Chiara Bono die ihre als Stiefmutter Hortensia, die sich wunderbar komisch dem Alkohol hingibt, als klar wird, dass keine ihrer Töchter als Braut in Betracht kommt. Immerhin erobert Clementine das Herz Benjamins, den António Casalinho mit jugendlicher Leichtigkeit als besten Freund des Prinzen darstellt.

Wer eine gut gemachte Show, einen farbenfrohen Abend ohne allzu großen Tiefgang und Anspruch in grauen Wintertagen sucht und beträchtliche Einlasshürden (2G-Plus) nicht scheut, der wird mit Christopher Wheeldonds „Cinderella“ bestens bedient.