Daniel Hope und die englische Musiktradition
Daniel Hope und die englische Musiktradition zum Auftakt des 65. Gstaad Menuhin Festivals
Saanen, 30. August 2021, Bernhard Metz

Gstaad und Saanen rufen unterschiedlichste Assoziationen auf: Für die eine sind das typisch schweizerische Orte, wohin sich der internationale Jetset einfliegen lässt, um sich beim Bergwandern, Skifahren oder Sonnenbaden einem naturverbundenen Leben näher zu wähnen, im millionenteuren Chalet oder gleich im Gstaad Palace-Hotel, zwischen Neuschwanstein und Disneys Dornröschenschloss gut situiert; für den andern Kunstorte und magische Gegenwelten, markiert durch Sprach- und Kulturgrenzen, Bergketten und das Saanetal, wo sich Gegensätze ausbalancieren, Unwahrscheinliches möglich und Kompliziertes ganz einfach wird. In Eurotrash (2021) hat Christian Kracht mit seinem Geburtsort und Herkunftskomplex literarisch abgerechnet („Gstaad habe sich wohl sehr verändert […], und ich antwortete, wir seien hier in Saanen, gleich neben Gstaad, denn in Gstaad könne man nicht mehr wohnen, da es dort inzwischen zu viele Prada-Boutiquen habe“), um zugleich dem nostalgischen Zauber dieser entrückten Bergwelt nicht ohne ironische Brechungen zu huldigen: „Mir wurde ganz flau vor Melancholie und verlorener Kindheit und dergleichen.“

Zur Sommerprominenz mit eigenem Chalet zählte auch Yehudi Menuhin, auf den das 1957 gegründete Festival zurückgeht, das bald seinen Namen trug. Anfangs trat er mit befreundeten Sommerfrischlern wie Benjamin Britten, Peter Pears und dem Cellisten Maurice Gendron auf, die sich alle etwas Ferienabwechslung gönnten, später kamen mehr und immer mehr bekannte Musiker ins Berner Oberland, die Formationen vergrößerten und die Konzerte vervielfachten sich. Das reicht als Gründungsmythos eigentlich aus, doch ist das Gstaad Menuhin Festival mittlerweile zweitgrößtes Klassikfestival der Schweiz (nach Luzern) und vielleicht das bedeutendste. Es hat sich, Menuhin starb 1999, Besonderheiten bewahrt, die als Erbe und Verpflichtung verstanden werden: einen Fokus auf Streichmusik, besonders Violine, zudem Kammerbesetzungen; kleine und intime Spielstätten wie Kirchen und sogar Kapellen, wobei St. Mauritius in Saanen eine besondere Rolle zukommt; die Nahbarkeit großer Stars – wie diesjährig Julia Fischer, Sol Gabetta, Daniel Hope, Nigel Kennedy oder Patricia Kopatchinskaja –, die mitunter in Meisterkursen die Traditionen des Gründers fortführen; eine Mischung hochkanonischer und vergessener Werke, mit dem künstlerischen Leiter Christoph Müller auch verstärkt neue und zeitgenössische Musik, in dieser Saison als Auftragskomposition für Streichorchester etwa „Shanty – Over the Sea“ des englischen Komponisten Thomas Adès.

Das Gstaad Menuhin Festival kommt in seiner 65. Auflage auf 64 Konzerte und dauert vom 16. Juli bis 4. September. 2019 wurden noch über 25000 Zuhörer gezählt, 2020 musste es abgesagt werden bzw. ohne örtliches Publikum als „Pop-up-Festival“ stattfinden. Zum Beethovenjahr wurden neun Konzerte aufgeführt und im Livestream übertragen. Seit längerem gibt es Programmschwerpunkte wie „Wasser“, „Pomp“, „Paris“ oder nun „London“, von Beginn an symphonische Konzerte im eigenen Zelt, sogar konzertante Opern. Das Festival gibt sich offen und niederschwellig zugänglich: Die Teilnehmer der drei Musikakademien (Gstaad Baroque, String, Piano Academy) treten bei freiem Eintritt öffentlich auf, Jugendliche aus den umliegenden Gemeinden erhalten Gratiskarten, Einwohner Ermäßigungen, es gibt Kinder- und Jugendprojekte, alles ist – auch mit Shuttleverbindungen zwischen den Spielstätten – in die Ferienregion Saanenland eingepasst und zum wichtigen Tourismusfaktor geworden. Zugleich hat man sich gegen die erzwungene Digitalisierung nicht gesperrt, sondern sie auf gstaaddigitalfestival.ch vorangetrieben. So wurden das diesjährige Eröffnungskonzert und weitere Aufführungen per Livestream übertragen. Doch wie steht es nach der Festivalpause um die Musik?

Vorzüglich, wie das Eröffnungskonzert zeigte, das eine Vielzahl der Charakteristika, die das Menuhin-Festival einzigartig machen, bündelte. Dieser Traditionsanschluss verdankte sich nicht zuletzt Daniel Hope, den mit dem Festival und seinem Gründer viel verbindet: „Yehudi Menuhin is the reason I became a violinist.“ Hopes Familie wurde nach ihrer Emigration aus Südafrika von Menuhin unterstützt, Mutter Eleanor war über 26 Jahre dessen persönliche Sekretärin, Assistentin und sogar Agentin und leitete schließlich auch das Festival. Entsprechend war Hope schon früh jeden Sommer in der Schweiz und bei Proben und Konzerten zugegen, bald auch auf dem Podest. Er wurde eines der vielen musikalischen Ziehkinder des Jahrhundertgeigers. 2016 veröffentlichte Hope zum 100. Geburtstag seines Mentors mit dem Kammerorchester Basel die reichbebilderte Einspielung My Tribute to Yehudi Menuhin. Auf dem Cover ist er mit dem „musikalischen Großvater“ in dessen Garten vor dem Saaner Bergpanorama zu sehen (die Produktion wurde als Selbstbeweihräucherung kritisiert, zeichnet sich aber durch große stilistische Vielfalt aus, nicht nur die erwartbaren Mendelssohn- oder Vivaldi-Konzerte finden sich exzellent eingespielt, auch Stücke von Enescu, Henze oder Steve Reich).

Dass Hope 2021 drei Programme nach seinem Gusto frei gestaltete, ist konsequent, auch in der Ausrichtung; die wechselnden Begleitmusiker werden als Freunde geführt, eine Übererfüllung von Schwerpunkt und Gründer-Bezug: „Daniel Hope & Friends I–III“ mit „Menuhin in London I–III“. Dabei reicht das Spektrum von englischer Madrigal- und Folkmusik bis hin zur Menuhin gewidmeten Violin-Sonate William Waltons oder einem Chorarrangement aus der Britten-Oper Gloriana. Wie immer eindrücklich der Aufführungsort, die dem heiligen Mauritius geweihte Kirche Saanen, nach der pandemiebedingten Pause Sehnsuchtsort und Sinnbild einer Rückkehr zum gewohnten Konzertbetrieb. Bereits die Konzerte der Gründungsjahre hätten an keinem besseren Ort stattfinden können, dem spätgotischen Raum mit reicher Freskierung aus dem 15. Jahrhundert und der gänzlich aus Holz gefertigten Einrichtung verdanken die Aufführungen trotz allfälliger Kompromisse (wie einem unverrückbaren Taufstein in der Vierung) eine unvergleichliche spirituelle Atmosphäre. Die Akustik ist gut und gerade bei solistischen Darbietungen und Kammerbesetzungen warm und klar, wobei es sommers trotz offener Türen zu hohen Temperaturen kommen kann. Am 16. Juli aber regnete es lange, statt 750 Plätzen wurden nur 300 besetzt, womit es weniger beengt zuging als sonst. Zudem wurde ohne Pause gespielt, was den Musikern viel abverlangte.

„Menuhin in London I“ bildete nicht nur den Auftakt des Festivals, sondern auch den der Musikreihe Hopes, mit Edward Elgar und Rebecca Clarke (1886–1979) im Zentrum. Nach den obligatorischen Einführungsreden und Begrüßungen spielten Hope und Simon Crawford-Phillips Elgars Sonate für Violine und Piano in e-Moll op. 82 von 1918. Auffällig war die tiefe Konzentration der Ausführenden. Hope musizierte ohne Noten im Stehen, teilweise mit geschlossenen Augen, mit traumwandlerischer Sicherheit. Das virtuose Stück gehört seit langem zu seinem Repertoire, mit Simon Mulligan nahm er es vor zwanzig Jahren auf, beeindruckend war gleichwohl das perfekte Zusammenspiel auch mit dem britischen Pianisten Crawford-Phillips. Beide brachten letztes Jahr eine Belle Epoque-Doppel-CD mit dem Zürcher Kammerorchester heraus, treten aber noch nicht lange gemeinsam auf. Dabei war Hope von professioneller Abgeklärtheit weit entfernt und befand sich etwa im flotten ersten und melancholischen zweiten Satz in einem fast entrückten Zustand. Er spielte jedoch ganz für unsere Welt und in inniger Verbundenheit mit seinem Publikum, präsentierte den emotionalen Reichtum von Elgars Sonate, der sie selbst nur als Gelegenheitsarbeit „full of golden sounds“ abgewertet hatte, freigebig und großzügig.

Dabei gilt gerade sie neben den zeitgleich entstehenden späten Meisterwerken, Streichquartett in e-Moll op. 83 und Klavierquintett a-Moll op. 84 – wobei letzteres zum Abschluss auf dem Programm stand –, als Gipfel von Elgars Kammerkompositionen, womit der über 60jährige gänzlich neue Wege einschlug. Eine bittersüße Mischung aus verspielter Romantik und brachialer Modernität, Düsternis, Enge und Schwere ist dieser zum Ende des Weltkriegs entstandenen Musik eingeschrieben. Die Andante-„Romance“, als Herzstück und Verbindung zwischen den Sätzen, wurde von Elgars Ehefrau Caroline Alice mit Baumriesen und Waldzauber im ländlichen Sussex, wo Elgar in einem Cottage bei Fittleworth von 1917 bis 1921 lebte und komponierte, assoziiert: „E. writing wonderful new music, different from anything else of his. A. calls it wood magic. So elusive and delicate.“ Mit Blick auf Berge und Wälder ließ sich der genius loci des Entstehungsorts auch in Saanen nachvollziehen. Hope und Crawford-Phillips verliefen sich aber nicht im musikalischen Dickicht oder Unterholz, sondern führten auf eine Gipfeltour, nahmen im Schlusssatz richtig Tempo auf und zeigten souverän ihr Können.

Hope nahm sich die Zeit, das Publikum familiär zu begrüßen und detailliert in seine Konzertreihe einzuführen. Erklärte Musik wirkt mitunter distanzierend, befremdlich, verstellt den Zugang. Nicht hier. So wurden die Bezüge zu Elgar und Clarke, besonders zu Menuhin, und der musikhistorische Kontext erwähnt, mit Augenzwinkern, britischem Humor und echter Herzlichkeit. Hope sparte persönliche Anekdoten nicht aus, was nie anbiedernd war, sondern die intime Atmosphäre festigte und zeigte, wie viel ihm Menuhin bedeutet. So erwähnte er dessen erstes Zusammentreffen mit Elgar: 1932 sollte mit dem London Symphony Orchestra Violinkonzert op. 61 in den Abbey Road Studios eingespielt werden, doch für den vorgesehenen Solisten Fritz Kreisler musste Ersatz gefunden werden. Das in Europa noch wenig bekannte Wunderkind wurde vom dirigierenden Komponisten lediglich einer kurzen, nur wenige Takte umfassenden Prüfung unterzogen. Sir Elgar wollte die Pferderennen nicht verpassen und war zuversichtlich, es werde ohne weiteres Probieren leidlich gut ausgehen. Zurecht, Menuhins erste Elgar-Aufnahme gilt noch immer als Meilenstein. Für Menuhin bedeutete dieser Zufall den Beginn einer beispiellosen Karriere, die mit der längsten Aufnahmegeschichte und dem langandauerndsten Plattenvertrag verbunden war, die bis heute ein Musiker vorweisen kann.

Improvisation verlangte auch Rebecca Clarkes Dumka für Violine, Viola und Piano. Der dafür vorgesehene Bratschist Philip Dukes, seit langem mit Hope musikalisch kooperierend, konnte wegen Einreisebeschränkungen nicht aus England kommen. Mit ihm hatte Hope die Dumka auf einer Referenzaufnahme (Clarkes Viola Music, gemeinsam mit Pianistin Sophia Rahman) schon 2004 eingespielt, er wäre die Idealbesetzung gewesen. Als Ersatz zeigte der Franzose Adrien La Marca, wie flexibel er die ihm als dominierendem Streicher zukommende Rolle ausfüllen konnte. Das zehnminütige Duo Concertante für Violine und Viola mit Piano von 1941 war ursprünglich als Hausmusik vorgesehen, Clarke war mit dem Pianisten James Friskin verheiratet, und verlangt in sechs elegischen Sätzen zugleich viel Rhythmus und Dynamik. Clarke befasste sich intensiv mit Bartók und Martinů, ihre Dumka nimmt die seit dem 19. Jahrhundert verbreitete Mode osteuropäischer Volksmusik und populärer Genres auf. Es ist trotz der tänzerischen Anklänge ein düsteres und schwermütiges Stück, das seine Entstehungszeit ausstellt. Das Trio demonstrierte, dass an Clarke eine vielschichtige Komponistin zu entdecken ist. Die Musiker gestalteten die Wechsel zwischen langsamen und schnellen Partien abwechslungs- und temporeich. Vor allem erwies sich der 32jährige La Marca als großartiger Bratschist, der eindrucksvoll neben Hope bestehen konnte.

So war die Programmgestaltung gewissermaßen um die beiden Weltkriege herum gruppiert. Dass Hope sich für kaum gespielte und mehr oder weniger vergessene Werke einsetzt und seinem Publikum vorführt, wie sie neben populäreren wie denjenigen Elgars Bestand haben, spricht für ihn als Musiker. Er ist kein zwanghafter Starsolist, der sich die virtuosesten Stücke und Paradepartien zusammensucht, um öffentlich aufzutrumpfen, sondern stellt sich in den Dienst der Musik. Clarkes Dumka ist wie viele ihrer anderen Kompositionen auf die Bratsche ausgerichtet und stellt sie gleichberechtigt neben die Violine. Hope ist willig, sich in Kammerformationen einzufügen, auch wenn er dann einmal nicht die erste Geige spielt oder zumindest nicht durchgehend die wichtigste Position übernimmt.

Freilich wurde mit Clarkes slawisch orientierter Dumka das Konzertthema „Menuhin in London“ konterkariert; dieser hatte wohl nie etwas von ihr gespielt, zumindest nichts zur Veröffentlichung eingespielt. Die in England geborene Bratschistin mit deutscher Mutter und amerikanischem Vater studierte zwar (ohne Abschluss) in London, verbrachte aber den wichtigeren Teil ihrer Karriere und den längsten Teil ihres Lebens in den USA, wo auch die Dumka entstand – die, schon in Anlage, Genre und Melodik, so gar nichts Englisches an sich hat. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs war Clarke, die auch die amerikanische Staatsbürgerschaft besaß, auf Besuch bei ihren in Amerika lebenden Brüdern und bekam für ihr Geburtsland kein Einreisevisum; so blieb sie, wie schon einmal von 1916 bis 1924. Ab 1944 lebte sie bis zu ihrem Tod mit 93 Jahren in New York, heiratete dort sogar noch. So typisch englisch wie Elgar ist Clarke in ihrer Musik nie gewesen, ihre spätimpressionistischen Einflüsse wie diejenigen von Debussy, Ravel oder Bloch, waren internationale. Selbst Elgars späte Kompositionen stehen quer zum Programmtitel, war er doch nach jahrelanger Schaffenskrise, psychisch erkrankt und „sick of towns“, London entflohen, um in der ländlichen Abgeschiedenheit von Fittleworth seine wichtigsten Beiträge zur Kammermusik schreiben zu können. In London, wo er nur wenige Jahre gelebt hatte, wäre ihm ein solches Spätwerk kaum mehr geglückt. Hopes erstes Programm hätte daher korrekter „No Menuhin, not in Fittleworth nor in New York“ heißen können.

Es folgte Elgars Klavierquintett a-Moll op. 84, zu dem als zweiter Geiger Ikki Opitz und die britische Cellistin Josephine Knight hinzukamen. Beide gehören, so führte Hope sie ein, zu seinen langjährigen musikalischen Wegbegleitern, Opitz etwa besuchte die Menuhin School London. Dass Hope ein grandioser Musiker in traditionellen Kammerformationen ist, hat er oft unter Beweis gestellt, nicht zuletzt mit dem Beaux Arts-Trio, dem er von 2002 bis zur Auflösung angehörte. Im Elgar-Quintett zeigte sich das wiederum deutlich. Musikern fehlt ohne die Reaktion eines Publikums Resonanz, die erzwungenen Aufführungsunterbrechungen waren schwierig für alle. Die fünf Musikfreunde führten das anspruchsvolle Stück mit solcher Spielfreude auf, dass sich die Begeisterung unmittelbar auf die Zuhörenden übertrug. Eine spannungsreichere und intuitiv richtigere Darbietung von Elgars späten Streichkompositionen ist schwerlich vorstellbar. Sonst dominierende Gegensätze und Glaubensfragen nach Aufführungspraxis, Instrumentenwahl oder Stimmung wurden unbedeutend. Alles passte und stimmte zusammen, der moderne Flügel, die historischen Instrumente (Hope spielt eine Guarneri von 1737, Knight ein 1728 von Giovanni Guidante gefertigtes Cello, La Marca eine Bergonzi-Bratsche von 1780) harmonierten in dieser auch für Elgar so neuartigen Musik. Es wirkte alles wie aus einem Guss. Gerade in genau diesem Kirchenraum in Saanen, der von einem Klang erfüllt war, wie ihn niemand sich besser hätte wünschen können.

Die Streicher spielten nicht nur technisch makellos, sondern auch überaus präzise zusammen, erreichten ein überragendes Timing, das gerade durch die orchestrale Notierung im dunklen ersten Satz (Elgar selbst sprach von „strange music“ mit „ghostly stuff“ darin) den Eindruck eines einzeln artikulierten Instruments im Duett mit dem Piano hinterließ. Der nostalgisch gefärbte Adagio-Satz, als Höhepunkt von Elgars Kammermusik überhaupt angesehen, zeigte noch einmal die Meisterschaft besonders von La Marca, der auch hier einen beeindruckenden Auftritt absolvierte und nie wie ein kurzfristig aquirierter Einspringer wirkte. Die Spielstärke der fünf Musiker war auf einheitlichem Niveau, es gab nichts Trennendes. Im dritten Satz wurden alle auch beängstigenden tiefen Emotionen hervorgerufen, die sich mit dieser Musik verbinden. Die als „spooky“ und „ghostly“ wahrnehmbare geisterhafte Grundstimmung, die aus dem ersten Satz zitiert wird, weicht einem hellen, tänzerischen, lichtvollen Aufbruch. Diese emotionale Passage über die drei Sätze von ängstlicher Schwermut zur harmonischen Auflösung in Verbindung mit dem fast orchestralen Sound, der sich nicht selbstverständlich ergibt, wurde vom Quintett eindrücklich ausgestaltet.

Zugleich, als Wermutstropfen, wäre mit Knight die überragende Cellistin anwesend gewesen, um das so offensichtlich ausgesparte fehlende Streichquartett in e-Moll aus der Werk-Trias op. 82–84 oder sogar Elgars Cellokonzert op. 85 in einer Kammerinstrumentierung aufzuführen. Gewiss, so wäre es ein gänzlich anderer Abend geworden, ein sehr langer oder einer ohne (Wieder-)Entdeckung Clarkes und damit ohne Ausblicke auf eine Komponistin. Jedoch kein schlechterer (Elgars Streichquartett op. 83 war in anderer Formation für den 24. August auf dem Menuhin Festival vorgesehen; jemand, an dem das Pomp and Circumstances-Marsch-Image haftet, ist nirgendwo besser als Komponist von Kammermusik zu würdigen als hier, verträgt aber eine Entdeckung gerade als Kammermusiker darum nicht weniger). Auch war Clarke, die durch die Rahmung mit Elgars Kammermusik zwangsläufig britannisiert wurde (bzw. egalisiert oder auch elgarisiert), am Ende weibliches Accessoire, das Sahnehäubchen, mit dem man Diversität und Geschlechtergerechtigkeit erhält, aber zu einem gewissen Preis. Clarkes Kompositionen wurden in keinem anderen Programm des Festivals aufgeführt, was beim Fokus auf London nicht verwunderlich ist, aber doch zeigte, dass Hope (der mit Viola Music eine wichtige Clarke-Einspielung vorgelegt hat) Clarke auch ganz weglassen oder aber im Gegenteil in seinen Programmen noch deutlich stärker hätte hervorheben können. Doch kritisieren ist leicht, und sprechen sollte man schließlich über das, was es gibt, nicht pauschal darüber, was es auch noch hätte geben können oder sollen.

Hope widmete die einzige Zugabe, die sich nach dem frenetischen Applaus des Publikums kaum hätte verweigern lassen, Leonz Blunschi, dem im Juli verstorbenen langjährigen Verwaltungsratspräsidenten des Festivals. Es war ein weiteres Elgar-Stück, der wehmütige Salut d’amour/Liebesgruss op. 12; das dreiminütige Salonstück wurde der späteren Lady Elgar 1888 zur Verlobung gewidmet. Damit griff Hope nicht nur auf das kommende Programm aus, wo es ebenfalls vorgesehen war, sondern verwies wieder auf den Festivalgründer: Ein Lieblingsstück Menuhins, der es in einer klassischen Aufnahme mit Adolph Baller 1949 eingespielt hatte, (mit stärkerer Streicherbesetzung) auch auf Hopes Tribute to Mehuhin. So kam das urbane London dann doch noch ins Saanenland, war Elgar anlässlich seiner Verlobung ja wirklich mit der Liebe seines Lebens in die Hauptstadt gezogen. Hope spielte wie in der ersten Formation des Abends mit Crawford-Phillip die ursprüngliche Duett-Fassung, wiederum schloss sich ein Kreis. Das Publikum wurde emotional bewegt in den hellen Abend entlassen, hinter den bewaldeten Bergen war noch die Sonne zu spüren. Für den einen ein magischer Ort, für die andere Ausdruck von Eingeschlossensein und Beengtheit, wieder Eurotrash 2021: „‚Ich war seit meiner Kindheit nicht mehr hier. Ich habe die Berge immer sehr geliebt.‘ ‚Ich habe sie immer gehaßt. Sie haben mich zerdrückt, jahrelang, jahrzehntelang. Diese engen Täler, nur mittags ist die Sonne zu sehen, sonst liegt alles immer im Schatten die ganze Zeit.‘“ Unterschiedlichste Assoziationen, Hope und seine Mitmusiker konnten sie am 16. Juli spielerisch zu einem großen Ganzen versöhnen.