In dem Moment, in dem die norwegische Sopranistin Lise Davidsen die prunkvoll gerahmte Bühne des Münchner Cuvilliés-Theaters mit einem einladenden Lächeln betrat, hatte sie ihr Publikum bereits erobert, ohne auch nur einen Ton gesungen zu haben. Gemeinsam mit ihrem Landsmann, dem exzellenten Pianisten Leif Ove Andsnes, bestritt sie danach einen außergewöhnlichen Liederabend, der das pandemiebedingt reduzierte Publikum zu einer beinahe verschworenen Gemeinschaft der wenigen Glücklichen werden ließ, die eine der raren Eintrittskarten ergattern konnten. Und sobald die beiden Musizierenden begonnen hatten, schien es, als sei der ganze Rokoko-Prunk vergessen und man befände sich in einem lauschigen Wohnzimmer, um guten Freunden beim Erzählen ungemein spannender Geschichten zu lauschen.
Zu dieser besonderen Atmosphäre trug auch die Programmgestaltung bei, die wenig Bekanntes mit Hausgöttern der Bayerischen Staatsoper kombinierte. Die erste Programmhälfte war ganz dem Liedschaffen Edvard Griegs gewidmet. In den Sechs Liedern Op. 48 verarbeitet der Komponist ausgewählte Lyrik in deutscher Sprache, unter anderem von Goethe, Heine und Uhland. Jugendlich geprägte Empfindungen von erster Liebe, Traum und Schmerz entfalten sich vor dem Hintergrund verschiedener Naturerfahrungen, vertreten durch unter anderem Blumen, Vögel, Wald und Bach. Das alles legt eine Nähe zu den Komponisten der deutschen Romantik nahe, doch Edvard Griegs musikalischer Kosmos hat seine Eigenarten, eine gewisse Trockenheit und Klarheit, die Reduzierung des Materials durch Wiederholungsstrukturen und ein Hang zur Folklore Norwegens. Leif Ove Andsnes, den man wohl als Grieg-Spezialisten bezeichnen darf, − zwei offizielle Einspielungen des berühmten Klavierkonzerts und vor allem die Aufnahme der Lyrischen Stücke an Griegs eigenem Flügel in dessen Haus legen davon ein beredtes Zeugnis ab − versteht es perfekt, dem Klavier diese nordischen Klangfarben zu entlocken und ein lebendiges Panorama der Naturphänomene und Gefühle zu entfalten. Lise Davidsen nähert sich diesen Liedern mit ihrem beeindruckenden stimmlichen Material, das es ihr erlaubt, alle Register der Darstellungskunst zu ziehen. Dieser Eindruck verstärkt sich noch im Liederzyklus Haugtussa, der in norwegischer Sprache die Geschichte eines in den Bergen lebenden Schäfermädchens erzählt, wiederum von Liebesfreud und Liebesleid, gespiegelt in landschaftlichen Topoi. Der Vergleich zu den vorherigen Liedern legt auf der Textbasis allerdings offen, dass es im Haugtussa-Zyklus direkter zugeht als bei Goethe und Heine: Davidsen singt ungekünstelt, aber innbrünstig von wilder Liebe, heißen Küssen und Rausch, führt uns die andersartige, bleiche Schönheit des Mädchens anschaulich vor Augen, zeigt aber auch Humor bei der Charakterisierung der auftretenden Tiere, wie beispielsweise der kleinen Ziegen im Zickeltanz (Killingdans), die sich gegenseitig zwicken und freudig erregt durch die Landschaft hüpfen. Andsnes unterstützt die Sängerin mit einer bewegten, ja bisweilen treibend anmutenden Begleitung.
Die Naivität und Impulsivität der ersten Hälfte des Abends wichen im zweiten Teil anderen Stimmungslagen: Auf vier nostalgisch-verklärende Preziosen aus der Feder von Richard Strauss (Ruhe, meine Seele gefolgt von Cäcilie, Morgen sowie Befreit) folgten die dunkel sich verströmenden Wesendonck-Lieder Richard Wagners. Damit sind zwei der zentralen Komponisten in Lise Davidsens bisherigem Werdegang vertreten, die sich musikgeschichtlich auch als prägend für die Stadt München erwiesen haben. Ein doppeltes Heimspiel also, ja gar eine Einladung dazu, sich auf dem Gefühl des zu erwartenden Einverständnisses mit dem Publikum auszuruhen? Nicht für Davidsen und Andsnes! Fangen wir beim Pianisten an: Er überträgt die nordische Klarheit und Kühle aus der ersten Hälfte des Abends mit analytischer Finesse auf die beiden Spätromantiker Wagner und Strauss. Niemals verfällt er in dumpfes Pathos und schwulstiges Zerdehnen der Phrasen. Mit Attacke und unbestechlicher rhythmischer Präzision legt er die Strukturen der Kompositionen frei, als schiene er sie in genau diesem Moment zu entdecken. Auf einmal treten die Oberstimmen wie schillernde Kristalle hervor, die Läufe perlen deutlich artikuliert wie kaltes, klares Wasser und ein gleißendes Licht durchströmt den Saal. Andsnes knüpft damit an die Tradition eines Pierre Boulez an, der seinerzeit das Bayreuth der späten 1970er Jahre durch seine messerscharfe Partiturexegese verstörte.
Lise Davidsen machte die kleine Sensation perfekt, indem sie ihre flexible jugendlich-dramatische Stimme zum Medium einer bewegenden Textausdeutung werden ließ. Gerade die teilweise auf peinliche Weise schmalzigen Gedichte Mathilde Wesendoncks, die einen beim Lesen die Augen verdrehen lassen, entkleidet sie von allem Kitsch durch den Ernst und die Unbedingtheit ihres Vortrags. Man hängt an ihren Lippen, wenn sie im ersten der fünf Lieder den Engel aus der Kindheitserinnerung beschreibt oder im zweiten hymnisch das „selig süße[] Vergessen“ besingt, aber man lässt sich vor allem in den beiden Vorstudien zum Tristan von ihr in die Schatten- und Traumseiten der Seele entführen; ein intensives Versprechen einer zukünftigen Interpretin der Isolde, von der wir nach diesem Konzert träumen und es kaum erwarten können, sie in dieser Rolle zu erleben.
Auch in den Strauss-Liedern scheint in ihr immer wieder die Opernsängerin durch; ihre Arme und Hände scheinen stets in Bewegung zu sein, als müsse sie sich zurückhalten, das Liederprogramm hier und jetzt auf der Bühne zu spielen. Neben ihrer beeindruckenden Tiefe sind es natürlich die Spitzentöne, die das Hörerherz beglücken: Sie vermag sie wahlweise aus dem Pianobereich ins Forte anschwellen zu lassen oder wie Säulen unvermittelt in den Raum zu stellen.
Die wahre Größe der norwegischen Sopranistin zeigt sich aber anderswo: An den zarten, geheimnisvollen Stellen nimmt sie ihre Stimme zurück, teilweise bis ins Gehauchte, oder lauscht singend der Klavierbegleitung.
Gibt es auch Einschränkungen? In der Mittellage ihres enormen Organs scheint sie sich nicht immer wohlzufühlen, außerdem liegen ihr die tragischen, elegischen und traumhaften Stücke weitaus besser als das Lustige, das Humorvolle. Sie erweist sich schon in ihrem jugendlichen Alter als Tragödin ersten Ranges, als ideale Interpretin des deutsch-romantischen Repertoires. Doch es ist interessant für die Zuhörer und vor allem gut für Davidsens stimmliche Gesundheit, wenn sie sich immer wieder dem Lied zuwendet, dieser vielleicht intimsten aller vokalen Gattungen. Dürfen wir in Zukunft auf Brahms, Liszt und Mahler hoffen?
Jedenfalls präsentierten sich Leif Ove Andsnes und Lise Davidsen an diesem Abend in Hochform und ermöglichten es dem Publikum, Neues zu entdecken oder Altbekanntes in neuem Lichte zu sehen. Mehr kann man von einem Liederabend kaum erwarten, und die Bayerische Staatsoper sollte schnell eine intensive Zusammenarbeit mit Davidsen verankern, wenn sie auch in Zukunft zu den führenden Häusern in puncto Wagnergesang zählen will. Wie heißt es fragend in Strauss' Cäcilie: „Wenn du es wüsstest, / Was leben heißt, umhaucht von der Gottheit / Weltschaffendem Atem, / Zu schweben empor, lichtgetragen / Zu seligen Höhn [...]“ − Lise Davidsen weiß es wohl, und wir würden sehr gerne hier mit ihr leben!