Dem Mann kann geholfen werden
Warum es sich lohnt, Schillers „Räuber“ zu lesen
München, 23. November 2023, Konstantin Grimm

Vor über 240 Jahren wurde in Mannheim ebenjenes revolutionäre Theaterstück uraufgeführt, welches so tief wie nur wenige Werke in unser kulturelles Gedächtnis eingegangen ist. Es muss ein eindrucksvoller Theaterabend gewesen sein am 13. Januar 1782. Augenzeugen berichten von geballten Fäusten, von Aufschreien und Ohnmachtsanfällen im Publikum. Was ist geblieben von dieser Polarisierung? Die Rede ist von dem Drama „Die Räuber“ von Friedrich Schiller.

Nicht nur ein Thema im Stück, sondern auch Gegenstand der Epoche des Sturm und Drangs ist die Revolte gegen die Väter. Der Protest der ungleichen Brüder Franz und Karl Moor gegen Vater und natürliche Ordnung findet sich auch in der Dichtergeneration der Stürmer und Dränger. Sie wollten gegen die rationalistische Dichtung der Aufklärung anschreiben mit dem Ziel, die versteiften Lehren mitsamt den autoritären Vaterfiguren – wie etwa den alten J.C. Gottsched, den „Rector magnificus“ der Regelpoetik – hinwegzufegen und den Weg zu dichterischer Selbstbestimmung zu erstürmen. Und dennoch ist es eigenartig, dass sich uns gerade aus dieser Epoche (neben Goethes „Götz“ und „Werther“) vor allem die „Räuber“ erhalten haben. Denn der Sturm und Drang war doch zumeist nur eine kurze Phase im Leben der Dichter, die später entweder vergessen, oder, wie im Falle Goethes, zu Heroen der Weimarer Klassik wurden. Gerade die Frühwerke großer Dichter erscheinen besonders bedroht, da sie Gefahr laufen, als bloße Vorläufer späterer Meisterwerke in deren Schatten unterzugehen. Nicht so die „Räuber“.

Dieses Stück trägt wohl den Geist, das Lebensgefühl jener Epoche in sich, doch es weist darüber hinaus. Die Brüder Moor sind philosophische Gegenspieler. Franz Moor protestiert gegen die Bande der Natur und sieht sich als ein von ihr entkoppeltes Wesen: „Soll sich mein hochfliegender Geist an den Schneckengang der Materie fesseln lassen?“ Dazu möchte er den Bruder durch eine Intrige beseitigen und den Vater, den natürlichen Schöpfer sozusagen, durch einen Mord loswerden. Gegenüber dem Rest der Welt ist er tyrannischer Misanthrop: „der Mensch entsteht aus Morast, und watet eine Weile im Morast, und macht Morast, und gärt wieder zusammen in Morast, bis er zuletzt an den Schuhsohlen seines Urenkels unflätig anklebt.“ Demgegenüber steht Karl Moor, der gegen den widernatürlichen Zwang der rationalisierten Welt protestiert. Er sieht sich im guten Dienst für die Natur und die natürliche Freiheit. Beunruhigen sollte jedoch die geradezu vulkanische Entladung, mit der Karl Moor zu Werke geht, nachdem er durch Franzens Intrige vom Vater verstoßen wurde. Er wird der Hauptmann einer anarchisch agierenden Räuberbande, die sich durch ihre fortschreitende Gewalt rasch von den ursprünglich hohen Idealen entfernt und Karls Rückkehr in eine bürgerliche Welt unmöglich macht.

Zwei Entwürfe von Rebellion werden in diesem Stück abgehandelt, die – man ahnt es schon – am Ende beide scheitern müssen. Franz muss im Gespräch mit einem Priester, den er zuvor noch verhöhnt, die Schwere seiner Taten erkennen. Zermürbt durch die Sünde des Vatermords, begeht er aus Furcht vor Strafe und der bevorstehenden Rache des Bruders Selbstmord. Und die Dynamik der Räuberbande, als treibende Kraft allen voran Karls gewaltbereiter Kontrahent Spiegelberg, führt zur Etablierung von Gewalt und zu einem steten Kontrollverlust. Die begangenen Verbrechen verhindern im fünften Akt die Wiedervereinigung von Karl und Amalia und führen die Katastrophe herbei. Schiller zeigt das Entgleiten eines Ideals und den Umschlag in Gewalt und Terror. Man ahnt in diesem Stück schon die Schatten dessen, was wenige Jahre später in der französischen Revolution bis dahin beispiellos Realität werden sollte: Die Perversion hehrer Idealen wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit in Tyrannei und Schreckensherrschaft.

„Die Räuber“ sind also auch ein Stück, das sich mit der Frage beschäftigt, ob Gewalt ein legitimes und taugliches Mittel zur Durchsetzung moralischer Ziele ist. Ein Gewaltdiskurs, der in der Revolution des 19. Jahrhunderts, der anarchistischen Strömung des 20. und der Geschichte des Kommunismus geführt worden ist, den man heute führt und sicherlich in Zukunft führen wird. Derzeit scheinen sich schließlich radikalere Protestformen abzuzeichnen, denkt man beispielsweise an die „Tag-X-Demonstration“ in Leipzig, oder auch an die jüngsten Entwicklungen in der Klimaschutzbewegung.

Das Erstaunliche an dem Stück dieses jungen Dichters ist, wie stark es uns die Sinnlosigkeit von Gewalt aufzeigt. Tief unzufrieden reflektiert Karl seine Rolle in der Räuberbande, dem „schrecklichen Bund“, und erkennt, wie sehr er sich verirrt hat. Zuletzt sieht er keinen anderen Ausweg aus der Gewaltschleife, als seine Geliebte umzubringen und sich selbst einem „armen Schelm“ mit elf Kindern und wenig Geld zu übergeben, der ihn gegen eine satte Belohnung der Justiz ausliefern wird. „Dem Mann“, resümiert Karl, „kann geholfen werden.“ Schiller lässt Karls (quasi-)Selbstmord also moralisch gehobener erscheinen als den von Franz.

Dass es sich bei den „Räubern“ bei aller Klarheit der Botschaft nicht um ein trockenes Lehrstück handelt, macht vielleicht die Größe des Textes aus – trotz aller Absurditäten der Handlung. Schiller war sich bewusst, dass er kein Stück mit unmittelbarer Realitätsbindung auf die Bühne bringen würde. „Man nehme“, schreibt er in seiner Vorrede, „dieses Schauspiel für nichts anders als eine dramatische Geschichte“.