Der Himmel hängt voller Geigen
Mallwitz dirigiert Beethoven und Mahler mit dem Berner Symphonieorchester
Bern, 10. März 2023, Bernhard Metz

Als Geheimtipp kann Joana Mallwitz kaum mehr gelten, eher ist die designierte Chefdirigentin des Berliner Konzerthausorchesters, die diesen Herbst die Nachfolge Christoph Eschenbachs antreten soll, mittlerweile zur Großdirigentin (oder „Großdirigent*in“) aufgerückt. Zugleich ist das Thema weiblicher Dirigate aktueller denn je, sogar Hollywood läuft ihm hinterher: Tod Fields Tár mit Cate Blanchett in der Titelrolle, der auf der Berlinale Deutschlandpremiere hatte und aktuell in den Kinos läuft, bringt es auf sechs Oscar-Nominierungen, verschiebt das Thema freilich in die Bereiche Machtmissbrauch, sexuelle Übergriffigkeit und Cancel Culture, wenngleich auch dort die Aufführung einer Mahler-Symphonie im Mittelpunkt steht.

Mallwitz’ erster Besuch beim Berner Symphonieorchester lässt solche Überlegungen freilich souverän hinter sich; sie demonstriert bei einer öffentlichen Probe am 7. März sowie zwei Aufführungen am 9. und 10. März von Beethovens Violinkonzert D-Dur op. 61 und Mahlers Vierter Symphonie in G-Dur die gleiche sportliche Leichtigkeit und konzentrierte Sicherheit, mit der sie schon länger besticht; auch international. Das Zusammenspiel gelingt mit einer Professionalität und Selbstverständlichkeit, die mit dem kleinen, wenngleich gut aufgestellten und bestens aufeinander eingespielten Berner Klangkörper Potenziale realisiert, die teilweise unerwartet, teilweise spektakulär, jedoch durchgehend überzeugend ausfallen.

Dabei beginnt alles mit Veränderungen und dem Zwang zur Improvisation: Nikolaj Szeps-Znaider, für den Part der Solovioline vorgesehen, muss kurzfristig durch Josef Špaček ersetzt werden; der, das kann gleich vorangeschickt werden, seiner Aufgabe bravourös nachkommt. Der tschechische Geiger erweckt nie den Eindruck, bloß ein Einspringer zu sein. Die Vierte Mahler-Symphonie weist wie die vorangehenden „Wunderhorn-Symphonien“ Bezüge zur Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn von Achim von Arnim und Clemens von Brentano auf. Zudem musikalische zu Mahlers gleichnamigem Orchesterwerk oder seinen auf der Sammlung basierenden Liedkompositionen. Mit dem Einbezug des mit Sopranstimme besetzten Liedes „Das himmlische Leben“ auch im vierten Satz. Dafür braucht es eine weitere Solistin. Mallwitz hat Julia Grüter aus Nürnberg mitgebracht, auch sie macht ihre Sache sehr gut, steigert sich vom ersten zum zweiten Abend noch. Reizvoll wäre es, Grüter im Lied von der Erde oder im Wunderhorn zu erleben, das Zeug dazu hat sie.

Ohnehin ist dieses Programm nicht nur gut besetzt, sondern auch ebenso klug zusammengestellt: Dass Beethovens einziges Violinkonzert bestens mit Mahlers Vierter zusammengeht, liegt auch am Lied des vierten Satzes, das bei Arnim und Brentano „Der Himmel hängt voll Geigen“ betitelt ist. Die Exponiertheit der Violine in Mahlers Symphonie zeigt sich auch daran, dass der zweite Satz eine „Totenfidel“ erfordert. Die ist um einen Ton heraufzustimmen, um sie „schreiend und roh klingen [zu lassen], wie wenn der Tod aufspielt“, so wünschte es sich Mahler. Stimmführer und erste Geige David Guerchovitch spielt das zweite Instrument roh und ungehobelt; riskiert gar nicht erst, etwa durch Umstimmen seiner richtigen Geige, die himmlischen Harmonien zu gefährden.

Die Nähe beider Stücke ergibt sich zudem durch die symphonische Anlage des Beethoven-Konzerts und die Umfänge: längstes klassisches Violinkonzert zusammengespannt mit kürzester Mahler-Symphonie. Und dadurch, dass es keine schmaler besetzte Mahler-Symphonie gibt, wenig Blech, etwa keine Tuben oder Posaunen. Auch die an Kinderlieder, Ländler, Volksweisen oder Walzer erinnernden Melodien, die Mahler heranzitiert, werden schon bei Beethoven aufgerufen. Sowie das Unernste, Ironische, Heitere und Kindhafte, das man auch im Violinkonzert heraushören kann. Hinzu kommt die Exponiertheit bestimmter Instrumente, allen voran der Pauke, mit der nicht nur das Violinkonzert so markant einsetzt, sondern die auch in der Mahler-Symphonie (verstärkt durch Schellen, Becken, Basstrommel, Tamtam) eine besondere Rolle spielt. Paukistin Mihaela Hogendoorn ist einer der Stars. Auch die Harfenistin Line Gaudard, denn auch dieses Himmelsinstrument kommt in Mahlers „himmlischer“ Vierten zum Einsatz.

Der größte Star dieses Programms freilich bleibt die wie eine Tanzmeisterin vor dem Orchester schwebende und trotz aller Konzentration und Präzision immerzu enorme Begeisterung und Freude ausstrahlende Dirigentin. Sie fächert schon den Allegro ma non troppo-Satz des Violinkonzerts so komplex vor dem Publikum auf, dass sich alles weitere wie von selbst ergibt. Dessen Bedürfnis, bereits zwischen den einzelnen Sätzen zu applaudieren und zu jubeln, ist spürbar, mitunter wird diesem Impuls sogar nachgegeben, so überzeugend und stimmig gelingt Mallwitz ihre Beethoven-Interpretation. Begeisterung ist ansteckend. Und trägt sich fort in die Aufführung der Mahler-Symphonie.

Erstaunlich ist, dass die Spannung auch da noch durchgehalten wird, wo bei aller Perfektion oft Routine Einzug hält: im dritten Mahler-Satz etwa, der nicht langweilig oder gravitätisch ausflockt, sondern in seinen ambivalenten Strebungen spannungsgeladen bleibt. Beim abschließenden als „Sehr behaglich“ charakterisierten Satz wähnt man sich dem himmlischen Leben nahe. Wenn auch, und das ist die Qualität des Dirigats und der klugen Interpretation Grüters, ein leichtes Grauen präsent bleibt und die naiv positiv anmutende Stimmung ins Unbehagliche umschlägt; Glück und Unglück, eng beisammen und aufeinander bezogen. So geraten auch Himmel und Paradies zu einem dystopischen Ort: „Kein’ Musik ist ja nicht auf Erden, Die unsrer verglichen kann werden.“ heißt es etwas kryptisch, zumal dies zum Ende mehrmals wiederholt wird. So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht klingen.

Was Mallwitz gelingt, ist nicht nur die Verbindung von Gegensätzen und Spannungen, die Mahler so stark forciert, sondern sogar eine Versöhnung der Generationen. Oder schlicht, dass mehr jüngere Menschen gekommen sind als bei Abonnementkonzerten sonst üblich. In Nürnberg hat sie sich als fähige Musikvermittlerin erwiesen und mit „Expeditionskonzerten“ in der Manier von Bernsteins Young People’s Concerts ein Format etabliert, das sich großer Beliebtheit erfreut. Mallwitz gelingt diese Vermittlung sogar, wenn sie nichts zur Musik sagt, sondern diese für sich sprechen lässt; im eigens produzierten Erklärvideo der Bühnen Bern meint sie klug: „Mahlers Musik spricht zu uns sehr konkret, aber man sollte vielleicht gar nicht soviel darüber reden ...“

Mahlers Vierte ist auch als ihr Abschiedskonzert am 28. April 2023 bei der Staatsphilharmonie Nürnberg angesetzt, wenn Mallwitz ihre aktuelle Wirkungsstätte verlassen und weiterziehen wird; es ist aber schon ausverkauft. So muss man von München, wo diese Symphonie 1901 uraufgeführt wurde, Mahler dirigierte selbst, in Zukunft wohl noch weiter und bis nach Berlin fahren. Oder eben nach Bern, weitere Mallwitz-Visiten beim Berner Symphonieorchester wären hochwillkommen. Das Publikum applaudiert frenetisch, trampelt mit den Füßen und erhebt sich, wie dies im Casino selten geschieht, zumindest nicht bei klassischer Musik. Doch hängt der Himmel einmal voller Geigen, wird vieles möglich.