Die Inszenierungen des italienischen Theaterkünstlers Romeo Castellucci polarisieren Publikum und Kritik. Als er 2017 im Münchner Nationaltheater Wagners „Tannhäuser“ inszenierte, wurde seine Arbeit in der Presse teils heftig attackiert, teils hymnisch gefeiert und Castellucci selbst als Genie gepriesen oder als Scharlatan verworfen. Überwiegend positive Reaktionen rief dann seine Salzburger Salome von 2018 hervor. Mozarts „Don Giovanni“, den er zum Auftakt dieser Festspiele auf die Bühne brachte, hinterließ hingegen wiederum gemischte Gefühle.
Castellucci ist es in seinen Operninszenierungen nicht um eine präzise, psychologisch genaue Personenführung als Deutung des Librettos zu tun. Vielmehr will er Theater als eine Art von Gesamtkunstwerk wahrnehmbar machen, weshalb er nicht nur Regie führt, sondern zugleich auch das Bühnenbild, die Kostüme und die Beleuchtung verantwortet. Der Regisseur, der eigentlich Malerei studierte, sucht nach Bildern, die nicht unbedingt verstanden, sondern eher gespürt und erlebt werden wollen. Zu Mozarts „Don Giovanni“ findet er solche Bilder nur bedingt.
Sicher, es gibt in Salzburg eindringliche Szenen, und die handwerkliche Präzision, mit der diese komplexe Aufführung über die Bühne geht, ist bewundernswert. Noch vor der Ouvertüre entleeren Handwerker einen barocken Kirchenraum. Sitzbänke werden entfernt, Bilder abgehängt, Statuen demontiert. Übrig bleibt ein leerer weißer Raum, den von links nach rechts eine Ziege durchquert. Dann plötzlich fällt ein Auto vom Schnürboden herab. Wenn alle Transzendenz getilgt ist, bleiben Lust und Kommerz, um die entstandene Sinnleere zu füllen. So taumelt Giovanni ähnlich wie Faust von Begierde zu Genuss, im Genuss aber schmachtet er wieder nach Begierde.
Wie Giovanni nach immer neuen erotischen Abenteuern ausgeht und seine Eroberungen öde mechanisch aneinanderreiht, wobei es ihm einerlei ist, ob die Damen alt oder jung, dick oder dünn, hässlich oder schön sind, so reiht Romeo Castellucci in seiner Inszenierung Einfall an Einfall, und auch hier scheint die quantitative Häufung bisweilen wichtiger gewesen zu sein als die Qualität seiner Ideen. Beliebig wirken vor allem die 150 Statistinnen, die sich in fließenden Gewändern im zweiten Akt der Oper zu immer neuen Gruppen formen und einmal sogar gekonnt dräuend wie Rachegeister ihre wilden Mähnen schütteln. Das ist alles recht hübsch anzusehen. Aber es ermüdet, weil der Bezug zur Handlung je länger je deutlicher verloren geht. Tableau folgt auf Tableau, der Abend wird zäh und stockend, auch weil Teodor Currentzis die Rezitative oft maßlos zerdehnt und immer wieder klaffende Pausen entstehen lässt. Im zweiten Akt werden außerdem – derzeit der neueste Chic des Regietheaters – opernfremde Melodien interpoliert, wobei der Mehrwehrt solcher Zutat (zum Beispiel der Kopfsatz des Dissonanzen-Quartetts nach Elviras zweiter, von Federica Lombardie mit Energie gesungener Arie „Mi tradi quell’alma ingrata“) fraglich bleibt.
Mozarts Figuren deutet der Regisseur in ausgetretenen Klischees des 19. Jahrhunderts. Wenn Donna Anna ihrem Verlobten Ottavio davon berichtet, was in der Nacht geschah, als ihr Vater starb (Rezitativ Nr. 10), so stellt die Regie die Szene mit Doubles nach – und weicht in entscheidenden Momenten vom Wortlaut des Berichtes ab. Castellucci suggeriert auf diese Weise, dass Anna sich in Wahrheit zum Eindringling Giovanni hingezogen fühlt. Passend dazu zeichnet er Ottavio als beinahe schon rührend unbeholfenen und erotisch blassen Schwächling. Castellucci inszeniert eher E.T.A. Hoffmanns „Don Juan“, auf den diese Rollenzuschreibungen zurückgehen, als Mozarts „Don Giovanni“: Ottavio, der einen altmodisch geschorenen Pudel an der Leine führt und mit seinen grotesken Kostümen völlig aus der Zeit gefallen wirkt, entspricht genau dem Typus bei Hoffmann: Er ist nichts weiter als ein „zierliches, geputztes, gelecktes Männlein“. Dabei zeichnet ihn Mozart doch als edlen, wahrhaft empathischen Menschen. Musikalisch ist der Ottavio des Michael Spyres auch in Salzburg die Hauptfigur. Mit noblem Legato und einem auch in der Höhe schimmernden Tenor gestaltet er anrührend seine beiden großen Arien und setzt sich souverän über das altbackene Klischee hinweg, das die Regie ihm anheftet.
Ähnlich stark wie bei Ottavio kontrastieren in dieser Inszenierung bei Donna Anna Musik und Szenerie. Auch hier misstraut Castellucci Mozarts Melodie. Anna hält wie schon im zuvor genannten Rezitativ während ihres großen Rondos (Nr. 23) eine griechische Theatermaske in ihrer Hand, wenn sie Ottavios Vorwurf, grausam zu sein, entkräftet und ihn an ihre Liebe erinnert („Crudele! Ah no, mio bene!“). Das – ein wenig aufdringliche – Requisit suggeriert auch hier eine Diskrepanz zwischen Gesagtem und Gemeintem. Doch Mozarts Musik untergräbt keinesfalls den Text, der wirklich eher zaghaft von der Liebe zu Ottavio spricht. Im Gegenteil: Die wegen ihrer Koloraturen gefürchtete Stretta im Schluss-Teil der Arie (Allegro moderato) verstärkt den Ausdruck der Liebe doch geradezu triumphal. (Dieter Borchmeyer hat das in seinem Buch „Mozart oder die Entdeckung der Liebe“ präzise nachgewiesen.) Nadezhda Pavlova bewältigt diese Arie technisch bravourös; ihre ätherische, gleichsam körperlose und nicht allzu farbenreiche Stimme gelangt durch den Verzicht auf Vibrato auch in den Ensemble-Szenen mitunter zu eindringlicher Intensität.
Insgesamt jedoch bleibt die Besetzung dieser Festspielproduktion durchschnittlich. Davide Luciano ist ein Giovanni ohne Schmelz in der Stimme und leider auch ohne Präsenz auf der Bühne. Leporello (Vito Priante), bei Castellucci als Giovannis Doppelgänger im weißen Anzug gestaltet, bleibt der Register-Arie die gemütliche Boshaftigkeit schuldig, die für sie charakteristisch ist. Mika Kares (Commendatore) und David Steffens (Masetto) bewältigen ihre Bass-Partien, ohne besonderen Eindruck zu hinterlassen. Anna Lucia Richter gibt mit jugendlich frischer Stimme eine ansprechende Zerlina. Eine ordentliche Ensemble-Leistung alles in allem, aber weiß Gott kein Sängerfest. Fürs Große Festspielhaus und fürs exklusive Salzburg sind diese Stimmen zu klein.
Teodor Currentzis verlangt ihnen einiges ab. Jede Arie wird ausladend mit Verzierungen geschmückt, wobei dieser Schmuck sich ähnlich ausnimmt wie viele von Castelluccis Regie-Einfällen: Er bleibt zirzensischer Selbstzweck. Weniger Zierrat und mehr Substanz hätte man sich von Teodor Currentzis gewünscht, der inzwischen ähnlich stark polarisiert wie Romeo Castellucci. Jürgen Kesting warf ihm in einem scharfen Kommentar vor, ‚ein von medialem Weltruhmesglanz verstrahlter Egomane‘ zu sein (FAZ, 30. Juli), Bernhard Neuhoff pries ihn im Bayerischen Rundfunk als „Original-Genie“ (BR-Klassik, 3. August). Beide Urteile sind in ihrer Maßlosigkeit verfehlt. Currentzis´ „Don Giovanni“ rechtfertigt meines Erachtens weder einen harten Verriss noch ein hymnisches Lob. Rau und harsch, zupackend und beherzt spielt das Orchester MusicAeterna unter der Leitung seines Chefs. Manches Tempo mag übertrieben, mancher Akzent gesucht, manche Phrasierung angreifbar sein. Doch gelingen auch packende Momente: die düster verhangene Ouvertüre zum Beispiel oder Giovannis gewaltige Höllenfahrt. Der Facettenreichtum an Emotionen, an seelischen Valeurs hingegen bleibt unterbelichtet. Currentzis´ Mozart berührt zu wenig. Ihm fehlt, woran es auch der Regie gebricht: Menschliche Wärme, seelische Tiefe.
Die Aufführung kann in der Arte Mediathek gesehen werden.