Es ist fast schon so etwas wie eine Tradition geworden, dass in jeder Saison des Bayerischen Staatsballetts ein sogenanntes „Triple Bill“ gezeigt wird. Ein solcher Abend, der aus drei mehr oder minder lose gefügten Einzelwerken besteht, hat durchaus seinen Reiz, bietet er dem Publikum doch die Möglichkeit, unterschiedliche Tanzstile erleben und Beziehungen zwischen den Stücken aufspüren zu können. Aber ist die Häufung dieser Trilogien nicht zugleich ein Krisensymptom? Weist sie nicht auch auf den Mangel an zeitgenössischen Choreographen hin, die dazu in der Lage wären, ein abendfüllendes Werk zu schaffen? In München jedenfalls trat lange niemand mehr mit einem großen Wurf an die Öffentlichkeit. So wurde auch diese, im Ganzen wenig glanzvolle Ballett-Festwoche (wo sind die internationalen Gäste? Und warum gibt es eigentlich keine Gala mehr?) am Freitag mit einer Premiere eröffnet, die drei Werke kombiniert.
Den Beginn machte „White Darkness“ von Nacho Duato. In dieser halbstündigen Choreographie, die 2001 in Madrid uraufgeführt wurde, verarbeitet ihr Schöpfer nach eigenen Angaben den Drogentod seiner Schwester. So mag man die Substanz, die immer wieder von der Decke herab oder aus den Händen der Protagonisten rieselt, als Droge, als „Schnee“ (Kokain) deuten – aber auch als geradezu barock anmutendes „memento mori“: Sand, der zwischen den Fingern zerrinnt. Von zarter, unaufhebbarer Traurigkeit umflort, scheint Madison Young im auberginefarbenen Kleid nicht einmal mehr vom leidenschaftlich engagierten Partner Jakob Feyferlik erreichbar zu sein. Er reißt sie an sich, immer wieder, mit Energie und hohem Tempo gewinnt er sie für wirbelnde Duos zur sinnlichen Musik von Karl Jenkins. Beide Solisten sind hervorragend aufeinander eingespielt und verbinden darstellerische Intensität mit tänzerischer Genauigkeit. Dazwischen drängen sich (als Vision oder Fiebertraum?) vier andere Paare in wechselnder Formation und mit solistischen Passagen, teilweise im harten Scheinwerferkegel geradezu ausgestellt, wobei vor allem António Casalinho durch seine ungeheure Leichtfüßigkeit besticht. Am Ende schiebt sich der schwarze, schwer gefaltete Vorhang im Hintergrund, der ein wenig an kopfüber hängende Fledermäuse denken lässt, zu einem schmalen Streifen zusammen, und von oben herab ergießt sich in einem breiten Strom der Schnee oder Sand, der die Protagonistin unter sich begräbt, während ihr Partner hilflos am Rande steht. Ein starkes, eindrückliches Bild.
Die Uraufführung, die folgte, überzeugte leider am wenigsten. Andrew Skeels Werk „Chasm“ zeigt eine düstere Welt in weiter Zukunftsferne. Da tummeln sich geschlechtslose Wesen mit katzenartig dicker Wirbelsäule in einem wohl unterirdischen Gelass. In fleckig blaugrauen Ganzkörperanzügen schlurfen diese lethargisch anmutenden Kreaturen zunächst müde und irgendwie desorientiert vereinzelt einher, wobei die Musik oder besser: Geräuschkulisse von Antoine Seychal mal an Wasser erinnert, das von Höhlendecken herniedertropft, mal Stöhn- oder Atemlaute erahnen lässt. Schließlich finden sich diese streng uniform frisierten Figuren zu einer Gruppe, womöglich zu einer Art von zukünftiger Urhorde, zusammen. Einem gelingt es, sich zum Anführer aufzuwerfen, den die Tänzer kreisförmig umringen. Eine rhythmisch präzise agierende Gemeinschaft entsteht, die eine Art von ekstatischer Huldigung darzubringen scheint; man mag hier an Vaslav Nijinskys „Sacre“ denken. Irgendwann – man weiß nicht, wie, man weiß nicht, warum – entsteht in der Wand der titelgebende Riss („Chasm“). Und dann ist das Stück zu Ende. Gewiss, Andrew Skeels gelingen durchaus auch sehenswerte Passagen. Aber ist seine dystopische Vision einer derart primitiven Menschheitszukunft nicht selbst ein wenig primitiv? Bedauerlich ist zudem, dass er in seiner Arbeit das Potential einer klassisch ausgebildeten Ballett-Kompanie so wenig zu nutzen gesonnen war.
Auch Sharon Eyal hat mit ihrem Stück „Autodance“, uraufgeführt 2018 in Göteborg, mit klassischem Tanz nichts im Sinne, eher schon wendet sie sich dezidiert davon ab. Auf der leeren, recht dunklen Bühne (Licht: Alon Cohen) bewegen sich die Tänzer zu den monotonen, nur wenig variierten Beats von Ori Lichtik in ebenso monotonen, jedenfalls stark repetitiven Bewegungsmustern. Mit weit ausgreifenden Armbewegungen zieht Severin Brunhuber auf Fußballen staksend wie auf dem Laufsteg mit beeindruckender Präsenz seine Bahnen, ehe seine Partnerin einen rhythmischen Kontrapunkt setzt. Ein sehr reizvoller Beginn! Doch die Mittel erschöpfen sich rasch. Entfaltete Eyals „Bedroom folk“, das 2021 in München gezeigt wurde, mit einem sehr ähnlichen Bewegungsvokabular eine unwiderstehliche Sogwirkung, so ermüdet das vierzigminütige „Autodance“ trotz der beeindruckenden tänzerischen Leistung bald. Dieses „Triple Bill“ überzeugt nur im ersten Drittel. Das ist dann doch ein bisschen wenig.