Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ in Bern
Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ in Bern
Bern, 3. November 2021, Bernhard Metz

Friedrich Dürrenmatt (1921–1990) war nie out, auch wenn es nach seinem Tod deutlich ruhiger zuging. Gesammelte Werke bei Diogenes zu Lebzeiten, Büchner-Preis zuerkannt, Nobelpreis nicht bekommen, Nachlass-Publikationen eher unspektakulär. Dieses Jahr hingegen hätte es zum 100. Geburtstag ab 5. Januar wieder richtig abgehen sollen, doch hat das Theater pandemiebedingt nicht viel davon gehabt. Während Buchpublikationen zuhauf erschienen und Ausstellungen und Tagungen stattfinden konnten, mussten Dramenproduktionen und Lesungen abgesagt oder aufgeschoben werden.

Obwohl er in seinen letzten Lebensjahren als bedeutender Prosaautor und Essayist, Polemiker und Schweizkritiker wahrnehmbar wurde, war Dürrenmatt in erster Linie Dramatiker und Theatermann. Mit unglaublicher Karriere, die auf ein Stück zurückgeht. Gemeint ist natürlich die bis heute weltweit aufgeführte und adaptierte dreiaktige „tragische Komödie“ Der Besuch der alten Dame. Wovon es neben Verfilmungen sogar eine von Dürrenmatt geschriebene Opernfassung gibt (Musik Gottfried von Einem, Uraufführung 1971 Wiener Staatsoper), zudem Musicals etc.

In Stalden (heute Konolfingen) im Emmental geboren und großgeworden, besuchte Dürrenmatt das Berner Gymnasium am Waisenhausplatz, studierte an der Universität Philosophie (u.a. bei Richard Herbertz, Walter Benjamins Doktorvater). Seit 1952 lebte er in Neuchâtel, keine 50 Kilometer entfernt. Auf sein Heimatdorf war er nie gut zu sprechen. Filmaufnahmen zeigen, wie Dürrenmatt am Konolfinger Bahnhof ankommt und über seine Kindheit als Pastorensohn spricht, von den Schikanen der Dorfjugend. Seine Selbstilisierung als Autor der Alten Dame, „der sich von diesen Leuten durchaus nicht distanziert und der nicht so sicher ist, ob er anders handeln würde“, umfasst neben den Güllenern ebensogut die Rückkehr und Rachephantasien der Titelfigur. Selbst Güllen, irgendwo zwischen Bern und Neuchâtel gelegen, ist als gängiger Vergleich seit der Uraufführung 1956 am Zürcher Schauspielhaus in Gebrauch und verständlich geblieben.

Für das Atelier-Theater Bern, heutiges Theater an der Effingerstrasse, reduzierte Dürrenmatt selbst 1959 die Personenanzahl, straffte den Text, schrieb für seine einzige Eigenregie dieses Stückes aber auch eine seither als kanonisch geltende Szene in Ills Laden um. Die bislang fünfte Inszenierung am Atelier-/Effinger-Theater Bern lief vom 30. Oktober bis 27. November. Regie führte Alexander Kratzer. Dieser verdichtete das Stück auf Melanie Herbe als Claire Zachanassian und Hannes Perkmann als Alfred Ill. Sekundiert von den Puppenspielern Katharina Halus und Tobias Krüger, die etliche Schauspielrollen übernehmen und von Katia Bottegal gefertigte Handpuppen, Kopfmasken und mit Handzügen bedienbare Gesichtscollagen für weitere Rollen animieren. Starke Änderungen, wobei viele Personen erhalten bleiben, jedoch nicht selbst auf der Bühne spielen.

Es ist reizvoll, dass der Klassiker zu seiner Entstehungszeit mittlerweile Zeitabstände aufweist wie seine Titelfigur zu ihrer Biographie: Kläri Wäscher verlässt Güllen 1910 siebzehn/achtzehnjährig, um 45 Jahre später als Claire Zachanassian, reichste Frau der Welt, triumphierend zurückzukehren. Triumphal ist auch die Wiederkehr des Stücks in Bern, begegnet man ihm 2021 wieder: Vieles ist gut gealtert, auch wenn man es (einschließlich der Fernsehspiele, Kinoverfilmungen oder Theateraufzeichnungen) wiederholt gesehen und gelesen hat.

Kläri/Claire kehrt bei Dürrenmatt als 62jährige zurück, in Bern ist sie keine Frührentnerin, wird durch Herbe als deutlich jüngere und attraktivere Frau dargestellt. Dieser mittelalten Dame gelang es rascher, die Voraussetzungen ihrer Rache zu schaffen: „Ich kenne die Welt. – Weil du immer reisen konntest. – Weil sie mir gehört.“ Sie verführt nicht nur durch Geld und Macht, auch durch Sex, verkörpert (nicht zuletzt durch grandios geführtes Licht) sexuelle Verführung pur. Das macht es für Ill umso grausamer, der ihrem Bann verfällt wie ganz Güllen. Dort wäre sie nie geworden, wer sie wurde.

Während die Alte Dame dem Bürgertum vorführt, wie empfänglich es für Geld und materiellen Wohlstand ist und die Käuflichkeit seiner Werte herauspräpariert, wird in Kratzers Regie doppelte Bestrafung sichtbar: Die Güllener wollen auf einmal alle werden wie die als unmoralisch verstoßene ehemalige Prostituierte. Das hat nicht nur damit zu tun, dass Geld die Welt regiert, sondern vielmehr, dass sie selbst so attraktiv und glamourös daherkommt. So bleibt als Moral: Die bildschöne Minderjährige lässt sich beherrschen, die nicht minder schöne erwachsene Frau herrscht selbst. Wiederkehr der Verdrängten.

Entsprechend trägt Herbe keine Prothese, sondern schicke Strumpfhosen. Was fehlt, ist das lächerliche Begleitpersonal (Toby, Roby, Koby, Loby). Zachanassian gewinnt durch das Fehlen ihrer Kammerdiener- und Leibwächter-Entourage, wirkt selbständiger, ist strahlend und fremdkörperhaft out of this world: Bestens angezogene archaische Rachegöttin. Feministische Zuspitzung in der Textbearbeitung durch die Basler Dramatikerin Gornaya.

Allein ihr erster Auftritt! Zu Beth Gibbons „Mysteries“ wird Herbe nach oben gefahren, verschwindet zu „Show“ („Let the show begin“). Es ist so stark und intensiv, da man solche Musik, erweitert durch Portisheads „All mine“ („All mine you have to be“) jahrelang nicht gehört hat, was heftige Nostalgieeffekte auslöst. Die Musiktexte und Dürrenmatts Drama verstärken sich gegenseitig. Auch Leonard Cohens „Thanks For The Dance“ vom letzten postumen gleichnamigen Album wird man nirgends so intensiv eingesetzt gehört haben wie hier. Flashbacks, Erinnerungen, Referenzen und minimale Musikeinsätze mit großer Wirkung.

Behutsam modernisiert, unwesentlich gekürzt wurde der Text. So spricht die Moralistin Claire (die trotz Gattenverschleisses und rabiater Methoden wie Bestechung, Kastration oder Ermordung schlechter Richter, falscher Zeugen oder früherer Geliebter die einzige mit moralischer Haltung darstellt) vom Umkippen der Meere, Zerstörung der Umwelt, Klimawandel. Hier kommt neues Vokabular hinzu, was nicht störend wirkt, sondern die Frage aufkommen lässt, ob Dürrenmatt wirklich so weit dachte (in einigen späten Texten durchaus) bzw. im heutigen Jargon formulierte (freilich nicht; „Globalisierung“ nutzte er ebensowenig wie „Global Village“).

Diese Dame wirkt heutig, vielleicht ein wenig zu woke und auf jugendliches Publikum abzielend; ohne dem Stück Gewalt anzutun. Als würde man eine alte Weise auf zeitgenössischen Instrumenten aufführen. Claire zieht die Notbremse, verweist immerzu darauf, dass es nicht weitergehen kann wie bisher. Nur mit fundamentalem Richtungswechsel kann die Ökokatastrophe abgewendet werden: „Sie zogen die Notbremse, Madame. – Ich ziehe immer die Notbremse. – Ich protestiere. Energisch. Die Notbremse zieht man nie in diesem Lande, auch wenn man in Not ist.“

Eine einzig-gültige Fassung von Dürrenmatts Drama gibt es nicht. Anlässlich der Neufassung 1980 schrieb dieser über seine Komödien: „Es ging mir […] bei den Fassungen für die Werkausgabe nicht darum, die theatergerechten, das heißt die gestrichenen Fassungen herauszugeben, sondern die literarisch gültigen. Literatur und Theater sind zwei verschiedene Welten: Außer den Komödien, die ich nur für die Theater […] und die ich als Regisseur schrieb, gebe ich im Folgenden […] die dichterische Fassung wieder, eine Zusammenfassung verschiedener Versionen.“

Entsprechend akzeptabel ist es, dass diese Gornaya-Bearbeitung seine Tradition weiterführt, die Personen zu reduzieren und bühnenkonforme Änderungen vorzunehmen, wie Dürrenmatt selbst für Bern bereits entschieden hatte. Einiges ist stehengeblieben, schafft lokale Kultur- und Glocality-Anleihen; mitunter Helvetismen. Was intensiv wirkt, gerade durch archaische Anmutungen. Dürrenmatt sprach von „einer totalen Rache, die logisch ist wie die Gesetzbücher der Urzeit“; diese tragische Notwendigkeit funktioniert nur über entsprechende Sprache. Diese überzeugt heute noch.

Dass es sich um ein Stück von 1958 handelt, wird aus juristischen und moralischen Regelungen heraus deutlich, wie sie noch zur Entstehungszeit selbstverständlich waren: die Tochter von Ill und Kläre wird der Mutter nach der Geburt genommen, zur Pflege freigegeben und mit Todesfolge vermutlich misshandelt, was als Inobhutnahme durch Jugendämter seltener geworden ist (auch in der Schweiz gibt es keine Verdingkinder mehr); Vaterschaftsklagen sind nicht mehr abzuweisen, indem man die behauptete Promiskuität der Mutter durch Zeugenaussagen anderer Männer belegt; Unehelichkeit ist bei Kindern weniger mit sozialer Ächtung verbunden, vielerorts Normalfall. So gesehen hat Dürrenmatts Stück erreicht, was es wollte oder sollte.

Als Erstbegegnung taugt diese Inszenierung, weil sie nicht nur auf Verfremdung setzt, sondern geradezu archaische Effekte schafft, die durch starke Bühnenkontraste, schwarz-weiße Ausrichtungen, schwarze Farbe, aufgeklebte Zeitungsausschnitte und Collagenköpfe, geometrische Körper, darunter GÜLLEN bildenden Großbuchstaben, 50er Jahre-Flair verbreitet (Bühne Peter Aeschbacher). Verstärkt durch Kostüme (Katia Bottegal und Sybille Welti), die in dieser Zeit angesiedelt sind, obwohl Krüger in kurzen Hosen und Turnschuhen herumläuft.

Claire trägt zu Beginn schwarz wie eine Witwe, hierauf schwarz-weißes Kostüm, zur achten Hochzeit Brautkleid mit Schleier, zur Tötung Ills wieder schwarz. Hartes Licht, auch die sehr spezifische Inszenierungsgeschichte des Stück an diesem Ort, beginnend mit Dürrenmatts Eigeninszenierung, geben Resonanzräume, wie sie anderswo nicht anzutreffen wären. Hart gefügt, kontrastreich, schwarz-weiß. Das erfordert, die Grautöne zu reflektieren, die Stück und Inszenierung dem Publikum abfordern.

Im Jubiläumsjahr wird ein Klassiker besichtigt, der noch genügend Strahlkraft aufweist, um mehr zu sein als Schullektüre oder abgearbeiteter Bildungskanon; das liegt an Bühne, Puppen, Masken, Musik, Licht, modernisiertem Textbuch mit klugen Strichen, auch an guter Regie und sehr überzeugenden schauspielerischen Leistungen. Wozu die Puppenspieler beitragen, die für ihre Mehrfachrollen in manchen Szenen erheblich mehr Text deutlich variantenreicher zu sprechen haben als die Hauptdarsteller. Dürrenmatt äußerste auf die Güllener bezogen, er „beschreibe Menschen, nicht Marionetten, eine Handlung, nicht eine Allegorie“; durch die Einbeziehung der Puppen funktioniert vieles davon freilich besonders gut. Eine wichtige Neuinszenierung.