„Den öffentlichen Raum einnehmen“, heißt es im Manifest für eine intellektuelle und politische Gegenoffensive des Autors und seines Freundes Geoffroy de Lagasnerie. Gelingen tut dies mit den zahlreichen Aufführungen der Stücke von New York nach Wien auf jeden Fall. Dass Denkprozesse bei jenen Privilegierten, die es sich leisten können, ins Theater zu gehen, oder bei den „Herrschenden“, wie Louis sie nennt, angestoßen werden, bleibt zu hoffen.
Erzählt wird im Volkstheater vom Versuch einer Annäherung – der des Sohnes, der sich als Kind noch jeden Abend gewünscht hatte, sein Vater möge nicht zu Hause sein, an eben jenen, der für ihn patriarchale Gewalt verkörpert. Dementsprechend zeichnete Édouard Louis sich in seinem ersten vielbeachteten autobiographischen Roman „Das Ende von Eddy“ als Opfer und erzählte vom Unverständnis seines Vaters für sein „Getue“, von dessen toxischer Maskulinität, Homophobie, der allgegenwärtigen Armut.
Bis Louis vier Jahre nach seinem Debüt, das ihn als berühmten Autor nach Paris geführt hatte, in seine Heimatstadt zurückkehrt – und erkennen muss, dass er die Situation seines Vaters vielleicht falsch eingeschätzt hat. Dessen Körper ist kaputt, am Ende: „Einer jener Körper, für den die Politik einen verfrühten Tod vorgesehen hat.“ Und also macht er sich nicht nur auf die Suche nach seinem verlorenen Vater, der hier nur stellvertretend für eine ganze gesellschaftlich benachteiligte Klasse steht, sondern auch nach den Tätern. Aus dem Opfer wird ein Ankläger.
Die Inszenierung im Wiener Volkstheater bietet eine Verschmelzung des Schaffens oder besser noch des bisherigen Lebens von Édouard Louis. Wenn sich in der Interviewszene über die Tätigkeit des Schriftstellers für die gilets jaunes mit einem Reporter die Schmähungen seiner ehemaligen Schulkameraden in den Dialog miteinmischen und letztlich auch der Reporter miteinfällt, ihm zudem immer wieder seine Worte im Mund verdrehen will, so klingt hier die Thematik des Aneignens von Erzählungen und die internalisierte Homophobie an, die der Schriftsteller in seinem zweiten Roman „Im Herzen der Gewalt“ verarbeitet hat.
Um das Herkunftsmilieu des jungen Schriftstellers zu skizzieren und die Beziehung zwischen Vater und Sohn besser illustrieren zu können, werden Elemente aus „Das Ende von Eddy“ eingearbeitet. Vielleicht auch deshalb, weil es immer Probleme bereitet, einen Roman auf die Bühne zu bringen – vor allem, wenn dieser nur 85 Seiten umfasst, wie es hier der Fall ist. Dem Zuschauer kann es recht sein, denn so bekommt er in aller Eindrücklichkeit die homophoben Tiraden, die erdrückende Enge und Armut der Familie Bellegueule zu sehen. Peter Fasching, Sebastian Klein, Julia Kreusch, Sebastian Pass und Birgit Stöger schlüpfen abwechselnd in die Rollen der Mutter, des Vaters oder eines Bruders. Sie alle spielen gut, glänzen jedoch auch nicht.Passend zur ärmlichen Herkunft des Protagonisten, wurde ein spartanisches Bühnenbild von Franziska Rast entworfen. Rustikale, übergroße Möbel, auf denen die Eddys wieder wie Kinder wirken; ihnen gegenüber die überlebensgroße Stoffpuppe des Vaters, zwei X als Augen, stummbleibend, verfremdet und deformiert. Plastikpflanzen. Ein kitschiger Weihnachtsbaum, unter dem die Geschenke in Müllsäcken verpackt liegen, drei Fernseher: Reality TV 10 hours a day.
Die Kostüme von Sarah Borchardt sind ebenso passend wie banal. Ein pinkes Paillettenkleid, Poloshirts, Hemden und Sakko für den urbanen schwulen Intellektuellen, eine Schürze für die Mutter und ein blauer Overall mit Helm für den Vater tun es, bedienen aber auch Stereotype, die aber wohl gerade in diesem Milieu noch nicht überwunden sind.
Mit dem Satz „Es bräuchte eine ordentliche Revolution“ endet das Stück. Vielleicht ist das der Grund, warum hier so mit der Brechstange gearbeitet wird, dass sich mancher wünscht, das Ganze würde subtiler vor sich gehen. Wenn Bilder der vier ehemaligen Präsidenten Frankreichs frontal dem Publikum präsentiert und deren soziale „Verbrechen“ genannt werden, dann hat das mit ausgefeiltem Drama wenig zu tun. Aber schließlich geht es Édouard Louis auch gerade darum: „Schau mich an, Papa. Schau mich an“, heißt es und dass man die Dinge, die niemand hören will, wiederholen muss, immer und immer wieder.