Seitdem das Nationaltheater in München 1963 wiedereröffnet wurde, gab es vier Produktionen von Mozarts „Le nozze di Figaro“: Günther Rennerts Inszenierung war von 1968 bis 1995 zu sehen und wurde abgelöst von Dieter Dorns Regiearbeit, die von 1997 bis 2016 auf dem Spielplan stand. Nun wurde Christof Loys „Figaro“ von 2017 durch die aktuelle Neuproduktion von Evgeny Titov ersetzt, die am 30. Oktober Premiere hatte. Anscheinend werden die Halbwertszeiten von Inszenierungen immer kürzer. Das liegt wohl auch daran, dass die Opernhäuser mit immer noch ausgefalleneren Deutungen auf sich aufmerksam machen möchten. Lohnt diese Anstrengung?
Titov, der an der Bayerischen Staatsoper mit dieser Inszenierung sein Debüt gab, erzählt die altbekannte Geschichte im Grunde eher traditionell. Neue Perspektiven ergeben sich durch seine solide, aber weder besonders tiefgründige noch auch nur besonders witzige Personenregie kaum. Annemarie Woods, die für Bühne und Kostüme verantwortlich ist, zeigt zunächst eine Metallwand mit großer Türe von schäbiger Fleckigkeit. Später, im 2. Akt, blickt der Zuschauer hinter diese Wand, wo sich das Gemach der Contessa befindet, die mit ein wenig rosa Wandfarbe und einem ausladenden Plüschmöbel auch nicht recht ankommt gegen die Tristesse ihrer Behausung. Der Graf wiederum bewohnt ein holzgetäfeltes Büro mit großem Schreibtisch, dem er gelegentlich dicke Geldbündel entnimmt. Die Hanfpflanze, die er kultiviert, ist wohl ein Ableger der Plantage, in welcher schließlich der Park-Akt angesiedelt ist. Die bunt zusammengewürfelten, oft schrillen Kostüme (Basilio mit schwarzem Lacklederschurz, der Graf im rosafarbenen Anzug, Susanna in einem Kleid, das den Stil der 50er Jahre aufgreift) lassen sich wie das Bühnenbild mehr oder minder unserer Gegenwart zurechnen. Wie in einer solchen Welt die Machtansprüche des Grafen begründet sein sollen, die für die Handlung doch zentral sind, bleibt offen. Huw Montague Rendell zeichnet ihn, schauspielerisch durchaus gekonnt, von Beginn an als skurrile, ja lächerliche Figur, bleibt dabei aber recht einseitig. Dass dieser Mann gefährlich und zugleich verletzlich ist, wird nicht spürbar, zumal Rendell auch stimmlich über wenig Autorität verfügt. Ihm fehlt es an Kraft und Nachdruck; die große Arie im dritten Akt „Hai già vinta la causa“ bringt ihn an den Rand seiner Möglichkeiten. Nur mit Mühe wird die heikle Koloratur bewältigt, die doch eigentlich zum Ausdruck seiner Befindlichkeit werden sollte. Dass die Regie ihm eine sadomasochistische Neigung unterstellt – vielleicht um zu zeigen, dass Macht und Sexualität hier eng miteinander verbunden sind –, erscheint wenig schlüssig, ist die Gewalt des Grafen doch kein Spiel, das den Beteiligten nach verabredeten Regeln Vergnügen bereitet, sondern bitterer Ernst, wie Susanna und Figaro erfahren müssen. Die skurrilen Einfälle und Gags (ein Stuhl mit Dildos, Joints, die geraucht, und Ledermasken, die übergestülpt werden) können nicht verdecken, dass Titov für die eigentliche Komik des Stoffes, die es doch reichlich gibt, kaum Sinn hat. Wenn am Ende des ersten Aktes die Erzählung des Grafen und die aktuelle Situation beim Auffinden Cherubinos korrelieren, wenn später nicht der verhasste Knabe, sondern ganz unerwartet eben doch Susanna im Kabinett zu finden ist, so verpufft diese von der Musik geforderte Situationskomik beinahe immer, weil das Timing nicht präzise genug ist.
Was sich von der Regie sagen lässt, dass sie nämlich vor allem auf schrille Effekte setzt, gilt in gewisser Weise auch für das Dirigat von Stefano Montanari. Das verhältnismäßig groß besetzte Staatsorchester spielt im erhöhten Graben eher kompakt als differenziert und wird dabei gelegentlich recht laut. Montanari begleitet die Rezitative selbst am Cembalo und wirkt dabei völlig überambitioniert: Er drängt sich mit seinen durchaus interessanten Einfällen derart in den Vordergrund, dass es einige Mühe kostet, den Sängern zu folgen. Auch die Arien schmückt er immer wieder mit Cembalo-Einsprengseln aus. Das macht Effekt, wirkt aber kapriziös und mit der Zeit auch ermüdend. Schwerer wiegt, dass Montanari in den großen Ensembles die Spannung, den Charme, den Witz der Musik nicht recht zu entfalten vermag, so dass insgesamt der Eindruck undifferenzierter Glätte entsteht. Auch mit den Sängern hätte intensiver an Details und am Ausdruck gearbeitet werden müssen. Dass Avery Amereau mit ihrer jugendlich kraftvollen Stimme als Cherubino von Sehnsucht, Erregung, Schmerz erzählt („Non so più“), wird viel zu wenig hörbar. Das übermäßige Ritardando in den Schlussversen („E se non ho chi m’oda“) wirkt hier wiederum nur als Effekt. Ähnlich pauschal bleibt Konstantin Krimmel als Figaro, der zwar über eine kernige, sicher geführte Stimme verfügt, es aber an Ausdruck fehlen lässt. Das Gefühl gewitzter Superiorität, das Figaro zu Beginn prägt, wird kaum vermittelt. Louise Alder wirkte als Susanna an seiner Seite zunächst etwas nervös, steigerte sich aber von Akt zu Akt, so dass die große „Rosenarie“ (Nr. 28) mit lyrischem Schmelz für sich einnahm. Dass Elsa Dreisig eine großartige Mozart-Interpretin ist, weiß man spätestens seit ihrer Salzburger Fiordiligi. In München wirkte ihr recht heller und raumgreifender Sopran am Premierenabend leider etwas angestrengt und eng, als wolle er sich nicht mühelos öffnen. Ganz anders Dorothea Röschmann: Sie war als Marcellina stimmlich wie darstellerisch höchst präsent, so dass man, was selten vorkommt, die Streichung ihrer Arie vom Ziegenbock bedauern musste. Am Ende gab’s freundlichen, aber keinesfalls enthusiastischen Applaus vom Münchner Publikum –, das wohl nicht allzu traurig wäre, sollte in zwei Jahren die nächste Neuproduktion von Mozarts „Figaro“ auf dem Spielplan stehen.