Wer die Gelegenheit wahrnimmt, im Fernsehen, auf DVD oder in den Opernhäusern die vielen „Nußknacker“-Aufführungen anzusehen, die (sofern nicht aus politischen Bedenken abgesetzt) während der Weihnachtstage gezeigt werden, und nun glaubt, dieses Ballett zu kennen, wird von John Neumeiers Fassung, die 1971 in Frankfurt Premiere hatte und seit 1974 auch an der Hamburgischen Staatsoper zu sehen ist, überrascht sein. Neumeier erzählt die auf E.T.A. Hoffmann zurückgehende Geschichte von 1816 auf ganz eigene Art, ja man könnte sagen, dass sein Ballett mit Hoffmanns Text nur noch wenig zu tun hat, denn sich bekriegende Truppen, Limonadenströme und Mandelmilchseen gibt es bei ihm keine. Man kann aber auch der Auffassung sein, dass Neumeier zum Kern der Geschichte vordringt. In Hamburg war seine Fassung nun zum 334. Mal zu erleben, wie immer vor ausverkauftem Haus.
Im Zentrum steht bei ihm die Geschichte Maries, eines Mädchens, das sich heimlich in Günther, den Freund ihres Bruders, verliebt. Gerne würde sie wie ihre Schwester Louise eine Ballerina sein. Zu ihrem zwölften Geburtstag bekommt sie von Drosselmeier, dem Ballettmeister der bewunderten Schwester, ein Paar Spitzenschuhe geschenkt. Aber ihre Versuche, so elegant wie sie zu tanzen, glücken erst im Reich des Traumes, in das Drosselmeier sie entführt und in dem sie mehr und mehr nicht nur zu einer echten Ballerina, sondern auch zur Frau heranreift. Doch am Ende verwandelt sich das traumhafte Barocktheater, in dem sie erst Zuschauerin, dann Tänzerin ist, wieder ins biedermeierliche Wohnzimmer ihrer Kindheit. Jürgen Rose hat für diese beiden so unterschiedlichen Welten je ganz eigene Ausstattungen und Kostüme entworfen, und es liegt – neben der großartigen Leistung des Ensembles – auch an dieser phantasievollen und kostbaren Ausstattung, dass diese Produktion noch immer begeistert.
Zunächst wird der Zuschauer in die bürgerliche Welt des späten 19. Jahrhunderts geführt, denn im überladenen Salon der Familie Stahlbaum feiert die ganze Familie Maries Geburtstag, wobei besonders der energiegeladene Tanz der Kadetten (Alessandro Frola, Matias Oberlin, Lizhong Wang, Eliot Worrell) für sich einnimmt. Es ist dann einer der großen Momente dieser Inszenierung, wenn sich im 2. Bild die Alltagswelt Maries traumhaft auflöst und einem Probenraum Platz macht, der durch eine seitlich positionierte Leiter, ein paar Requisten und eine Ballettstange angedeutet wird. Später entsteht dann vor den Augen des Zuschauers im leeren Raum eine perspektivisch gestaffelte, reich bemalte Barockbühne. Drosselmeier, den Alexandre Riabko mit souveräner Technik als wunderbar verschrobenen, in seiner Erscheinung an Marius Petipa erinnernden Ballettmeister darstellt, ist es, der vor der staunenden Marie (von Giorgia Giani mit noch halb kindlicher Anmut getanzt) die unwirklich-schöne Welt des Balletts auftut. Die gar nicht wenigen Divertissements, die er ihr (und dem Publikum) zeigt, werden von der vorzüglichen Compagnie Neumeiers so hervorragend getanzt, dass sie immer wieder aufs neue erfreuen und nie ermüdend wirken. Da ist zum Beispiel die mit hoher Konzentration von Florian Pohl und Priscilla Tselikova gegebene grazile Einlage „La fille du Pharao“ oder, charmant, „Esmeralda und die Narren“. Doch besonders Alexandr Trusch begeistert mit stupender Technik und sprühendem Charme als Günther, der nun als idealer Ballerino in Maries Träumen wiederkehrt und dort mit Louise (Xue Lin mit kleinen Unsicherheiten) geschmeidig elegante, klassische Pas de deux tanzt. Nach dem Reigen der tänzerischen Kleinodien, die sich im zweiten Teil wie Perlen einer Kette aneinanderreihen, schließt Neumeier gekonnt den Rahmen. Der Theatersaal verwandelt sich wieder ins bürgerliche Wohnzimmer, in dessen Mitte Marie liegt und aus ihrem Tanz-Traum erwacht. Nächstes Jahr zur Weihnachtszeit wird sie wieder träumen, spätestens, und wir werden wieder mit großen Augen dabei sein.