Wer die Gelegenheit wahrnimmt, im Fernsehen oder auf DVD die vielen „Nußknacker“-Aufführungen anzusehen, die meistens während der Weihnachtstage zu sehen sind, und nun glaubt, dieses Ballett zu kennen, wird von John Neumeiers Fassung, die 1971 in Frankfurt Premiere hatte und seit 1973 auch an der Münchner Staatsoper zu sehen ist, überrascht sein. Neumeier erzählt die auf E.T.A. Hoffmann zurückgehende Geschichte von 1816 auf ganz eigene Art, ja man könnte auf den erste Blick zum Eindruck gelangen, dass sein Ballett mit Hoffmanns Text nur noch wenig zu tun hat, denn sich bekriegende Truppen, Limonadenströme und Mandelmilchseen gibt es bei ihm keine. Man kann aber auch der Auffassung sein, dass Neumeier „die über Jahrzehnte vergorenen Schalen der Handlungs-Zwiebel“ so lange häutete, „bis deren Innerstes zutage lag“, wie es im Programmbuch der Aufführung einmal hieß. Im Zentrum steht bei ihm die Geschichte Maries, eines Mädchens, das sich heimlich in Günther, den Freund seines Bruders, verliebt und das gerne so sein möchte wie seine Schwester Louise, die eine Ballerina ist. Zu ihrem zwölften Geburtstag bekommt sie von Drosselmeier, dem Ballettmeister der bewunderten Schwester, ein Paar Spitzenschuhe geschenkt. Aber ihre Versuche, so elegant wie sie zu tanzen, glücken erst im Reich des Traumes, in das Drosselmeier sie entführt und in dem sie mehr und mehr nicht nur zu einer echten Ballerina, sondern auch zur Frau heranreift. Doch am Ende verwandelt sich das traumhafte Barocktheater, in dem sie erst Zuschauerin, dann Tänzerin ist, wieder ins biedermeierliche Wohnzimmer ihrer Kindheit. Jürgen Rose hat für diese beiden so unterschiedlichen Welten je ganz eigene Ausstattungen und Kostüme entworfen, und es liegt – neben der Leistung des Ensembles – auch an dieser phantasievollen und kostbaren Ausstattung, dass diese alte Prodiktion nach wie vor ein großer Erfolg ist: Alle Aufführungen sind in kurzer Zeit ausverkauft.
Zunächst wird der Zuschauer in die großbürgerliche Welt des späten 19. Jahrhunderts geführt, denn im überladenen Salon der Familie Stahlbaum feiert die ganze Familie Maries 12. Geburtstag, wobei besonders der schwungvolle Tanz der vier Kadetten für sich einnimmt. Insgesamt zeigt sich ein detailreich gearbeitetes Genrebild mit vielen witzigen Einzelheiten, die präzise einstudiert sind. Nur das merkwürdig stockende Dirigat von Azim Karimov, das keinen rechten Sog aufkommen lassen will und wenig Rücksicht auf die Tänzer zu nehmen scheint, trübt das Vergnügen.
Drosselmeier, der ein wenig später zur Feier hinzukommt, wirkt in diesem Umfeld mit seinem mit rosaroter Seide gefütterten Umhang wie ein Exot und wird von den schneidigen Kadetten nicht nur scherzhaft, sondern durchaus auch boshaft gefoppt. Severin Brunhuber zeigt ihn als durchaus exzentrischen Charakter, ohne ihn je der Lächerlichkeit preiszugeben. Eine Witzfigur ist dieser Ballettmeister – seine Erscheinung ähnelt derjenigen Marius Petipas – bei ihm in keiner Sekunde. Es ist dann einer der großen Momente dieser Inszenierung, wenn sich im 2. Bild die Alltagswelt der träumenden Marie auflöst und einem Probenraum Platz macht, der durch eine seitlich positionierte Leiter, ein paar Requisten und eine Ballettstange angedeutet wird. Später entsteht dann vor den Augen des Zuschauers im leeren Raum eine perspektivisch gestaffelte, reich bemalte Barockbühne. Und hier ist Drosselmeier nun ganz in seiner Welt, die er souverän beherrscht, indem er seine Tänzer nach eigenem Gusto arrangiert und mit seinem Stock korrigiert. Der staunenden Marie eröffnet er so eine unwirklich-schöne Welt der Kunst. Die Divertissements, die er ihr (und dem Publikum) zeigt, werden vom Bayerischen Staatsballett so überzeugend dargeboten, dass sie nicht ermüden. Besonders Jakob Feyferlik und Ksenia Shevtsova, die beide im ersten Teil als Günther und Louise zu sehen sind und jetzt als ideales Ballett-Paar wiederkehren, beeindrucken mit geschmeidiger Eleganz im wundervoll fließend getanzten „Grand pas de deux“. Und Lizi Avsajanishvili verkörpert eine zarte, glaubhaft mädchenhafte Marie, die mit Neugierde, kindlicher Scheu, aber auch mit Übermut eine Welt erkundet, zu der sie gehören möchte. Neumeier erzählt ihre Geschichte so poetisch wie augenzwinkernd, so anrührend wie komisch. Nach dem Reigen der tänzerischen Kleinodien schließt er den Rahmen. Der Theatersaal verwandelt sich wieder ins bürgerliche Wohnzimmer, in dessen Mitte Marie liegt und aus ihrem Tanz-Traum erwacht, in ihren Armen hält sie den Nussknacker, der sie an ihren Schwarm Günther erinnert. Aber Drosselmeier, der ihr Augenmerk immer wieder weg von diesem erotisch aufgeladenen Spielzeug und hin auf die Kunst und womöglich auch auf sich selbst hat richten wollen, bleibt allein auf dunkler Bühne zurück, wenn der Vorhang sich schließt.