Edward Clugs „Nussknacker“ in Stuttgart
Edward Clugs „Nussknacker“ feiert am Stuttgarter Ballett Premiere und überzeugt nur bedingt
Stuttgart, 25. November 2022, Christian Gohlke

50 Jahre lang gab es beim Stuttgarter Ballett keinen „Nussknacker“ mehr, obwohl Tschaikowskys Werk zu den beliebtesten klassischen Kreationen gehört. John Cranko, der längst zur Legende gewordene Chef der Compagnie, hat neben seinen klassischen Handlungsballetten wie „Romeo und Julia“ oder „Der Widerspenstigen Zähmung“ zwar auch einen „Nussknacker“ choreographiert, doch diese Arbeit ging – horribile dictu! – nach nur wenigen Aufführungen verloren. Jetzt hat der knapp fünfzig Jahre alte Edward Clug diese schmerzliche Lücke im Stuttgarter Repertoire geschlossen. Hat er seine Sache gut gemacht? Wohl doch nur bedingt.

Clug orientiert sich bei seinem „Nussknacker“, der am 25. November zur Musik Tschaikowskys uraufgeführt wurde, enger als andere Choreographen an E.T.A. Hoffmanns Geschichte aus dem Jahr 1816. (Lew Iwanow und Marius Petipa, die Choreographen der Uraufführung 1892, hielten sich an eine französische Fassung, die sich nur lose auf Hoffmann bezieht.) Der neue Stuttgarter „Nussknacker“ erzählt die Geschichte von Clara, die am Weihnachtsabend von Onkel Drosselmeier einen Nussknacker geschenkt bekommt, der sie in ein Phantasiereich entführt, in dem das Mädchen Traum und Realität kaum mehr zu scheiden weiß. Der Nussknacker entpuppt sich schließlich als Drosselmeiers verwunschener Neffe; der finalen Hochzeit steht, wenigstens im Traum, nichts mehr im Wege. Jürgen Rose, in Stuttgart wahrlich kein Unbekannter, hat dafür noch einmal in alter Meisterschaft wunderbar historisierende Kostüme entworfen, die in ihrem Farb- und Detailreichtum eine wahre Augenweide darstellen. Stimmungsvoll fällt der Schnee über die Schlittschuhläufer in der ersten Szene, dann wird mit großem Aufwand das Weihnachtsfest im Hause der Stahlbaums (Clemens Fröhlich und Joana Romaneiro Kirn als Vater und Mutter) gefeiert. Claras Bruder Fritz, von Matteo Miccini mit hinreißendem Überschwang getanzt, wirbelt über die Szene, bis Pate Drosselmeier verspätet auf dem Fest erscheint. Jason Reilly, gelblich schillernd gewandet, trägt eine Augenklappe, die ihm etwas Verwegen-Piratenhaftes verleiht. Etwas unheimlich mutet denn auch sein Weihnachtspräsent an. Dieser Nussknacker bewegt sich steif und unbeholfen, wobei zuweilen seine Vorder- kaum von seiner Rückseite zu unterscheiden ist. Friedemann Vogel gibt diese Figur zunächst hölzern unbeholfen. Doch Clara (Elisa Badenes mit mädchenhaftem Charme) verliebt sich dennoch in ihn.

Clug erzählt das alles nachvollziehbar und kurzweilig. Dennoch haftet dem Abend etwas Biederes an. Der Choreographie fehlt es an Glanz und Esprit. Sie bleibt allzu bodenständig-erzählerisch. Das zeigt sich besonders im zweiten Akt. Der besteht nämlich auch bei Clug mehr oder minder aus einer Folge aneinandergereihter Nummern, weil die eigentliche Geschichte im Grunde genommen mit dem ersten Akt zu Ende ist. Wenn aber bei Iwanow/Petipa oder Neumeier eine Perlenschnur tänzerischer Kabinettstücke folgt, so bleibt in Stuttgart das Niveau dieser Divertissements eher enttäuschend. Dabei ist Clugs Anlage des zweiten Aktes durchaus stimmig: Clara findet nun in einer Sphäre der Phantastik ihre Spielzeuge vom Weihnachtsabend wieder, belebt und vergrößert. Riesenhafte Walnüsse stehen auf der Bühne und geben nach und nach durch eine Drehung ihr Inneres preis. Dass Clug aber dem vorzüglichen Ensemble des Stuttgarter Balletts, dem eine klassische Fassung sehr wohl zu Gesicht gestanden hätte, die Möglichkeit, auch zirzensisch zu brillieren, hier weitgehend verweigert, bleibt unverständlich. Matt bleibt der Auftritt der Toreros und Harlekins, glanzlos der Tanz der Kosaken. Halbgar und ein wenig feig mutet schließlich die Idee an, die politisch heute umstrittenen Einlagen (arabischer und chinesischer Tanz zum Beispiel) von Tieren darstellen zu lassen, so witzig der Auftritt der beiden Kamele zu ersterem auch gerät. (Bleibt abzuwarten, wann die erste Tierrechtsorganisation Einwände gegen diese doch immerhin äußerst klischeehafte Darstellung von Kamelen erhebt…) Die milde Enttäuschung über diesen zweiten Akt wird leider auch nicht durch den finalen Pas des deux getilgt. Clara und der nun zum Prinzen gewordene Nussknacker finden zueinander und beschließen das Stück zu Tschaikowskys „Wintermorgen“ op. 39, bearbeitet von Wolfgang Heinz, der das Württembergische Staatsorchester sicher durch den Abend leitete. Doch Friedemann Vogel und Elisa Badenes, beide seit sehr vielen Jahren Erste Solisten des Hauses, bleiben blass und agieren nicht ohne sichtbare Anstrengung. Wer je gesehen hat, zu welchen Seelenerhebungen und Schönheiten John Neumeiers klassische Fassung von 1971 in der phantastisch-schönen Ausstattung Jürgen Roses an solchen Stellen sich aufschwingt, der kann Edward Clugs Variante nur zweitrangig finden. Das Bessere ist eben auch hier der Feind des Guten.