Mozarts Zauberflöte erweist sich in überarbeiteter Inszenierung Patrick Schlössers (Einstudierung Alexander Kreuselberg) als größter Publikumserfolg der Bühnen Bern der Spielzeit 2022/23 (Premiere 4. September, zehn Vorstellungen bis 31. Dezember). Das ist einerseits keine Überraschung, ist sie doch allseits beliebt und weltweit das wohl meistaufgeführte, bekannteste und beliebteste Musiktheaterstück überhaupt. Jedoch gelingt eine Auslastung, wie sie in Bern die zweite Saison der Intendanz von Florian Scholz krönt, nicht zwangsläufig; nicht jede Zauberflöte kommt gut beim Publikum an. Zu problematisch ist allein die Vermengung musikalischer Traditionen zwischen deutschem Singspiel, Opera Buffa, Volkslied, Opera Seria oder mächtigen Chorälen, zu voraussetzungsreich die Wiener Kasperl- und Zauberoper, der sie als „Maschinen-Komödie“ grundsächlich zugehört.
Einem heutigen Publikum, das sich bewusst über Political Correctness und Wokeness definiert, fordert Emanuel Schikaneders Libretto einiges an Toleranz ab. Nicht allein wegen seiner despotischen, gewaltaffinen, paternalistischen, misogynen oder rassistischen Anteile; 231 Jahre sind nie leicht zu überbrücken. Selbst wer um historische Gerechtigkeit bemüht ist, wird das wohl missratenste Mozart-Libretto als Zumutung empfinden. Trotz selten schöner und bezaubernder Wendungen bleibt Schikaneders durchgeknallte Zusammenstückelung absurder Märchen- und Freimaurer-Motive, selbstgerechter Album-Weisheiten und blühendsten Kitsches ein arges Machwerk. 1791 hieß es im Berliner Musikalischen Wochenblatt: „Die neue Maschinen-Komödie: Die Zauberflöte […] findet den gehoften Beifall nicht, weil der Inhalt und die Sprache des Stücks gar zu schlecht sind.“ Wäre nicht Mozarts geniale Musik. Und, hört man genau hin, echte Humanität.
Was ist das Rezept dieses Berner Erfolgs? Eigentlich nichts. Also fast gar nichts neu zu machen. Paradox, weil Striche und Textänderungen beträchtlich ausfallen. Vom technischen Aufwand her ist diese Inszenierung auf jeder Schulbühne zu realisieren, man sieht Kostümen und Bühnenbildern ihre Einfachheit, ja Gestrigkeit an. Faktisch waren sie schon 2014, als Schlössers Zauberflöte uraufgeführt wurde, am Stadttheater Klagenfurt im Einsatz. Man kann das zeitlos nennen. Vielleicht klassisch. Nachhaltig sicher. Die Bühne (Miron Schmueckle) besteht aus Vorhängen und Papprequisiten, gearbeitet wird mit minimalem Einsatz von Technik und Licht (Helmut Stulschnigg). Anders als 1791 oder später, wann immer spektakuläre Zauberflöten-Inszenierungen aufboten, was technisch möglich war, mit aller verfügbaren Bühnentechnik Ausstattungsorgien inszenierend, bleibt bis auf etwas Kunstnebel und Geisterbahnkulisse alles bescheiden: Die Schlange ist nur aufgemalter Vorhangprospekt; die Knaben bleiben auf dem Boden; Tieraufläufe in Zoostärke entfallen ebenso wie eindrucksvolle Tempelarchitekturen, Feuer- oder Wasserproben. Bühne und Kostüme (Katja Wetzel) sind auf Masken, Stoffe, Schleier reduziert. Doch hinterm Schleier: nichts.
Diese alte Inszenierung ist so konventionell, dass sie nicht anecken kann. Jegliche Nähe zum Regietheater wird gemieden, wobei Schlösser 2017 verstarb; wie er heute inszeniert hätte? Kreuselberg ist bemüht, die Klagenfurter Inszenierung getreu zu transferieren. Diese alte Zauberflöte holt vom Kleinkind über die Schulklasse hin zum Liebespaar bis zur Großelterngeneration alle ab und eint sie fröhlich im Familienausflug. Bombenstimmung, wie 1791 im Wiedner Theater, wo Handwerker und einfaches Volk ebenso zum Publikum zählten wie die feinere Gesellschaft. Um sich zu verlustieren, zu essen, zu trinken, zu konversieren. Während der Aufführung.
2022 wird in Bern (noch während der Ouvertüre) gesprochen, gewunken, gelacht, zeitgleich zum Fussball-WM-Achtelfinal der Nati gegen Portugal; viele Smartphones bleiben eingeschaltet und werden eifrig weiterkonsultiert. Eines klingelt, die Schülerin direkt vor einem braucht unendlich lang, bis sie ihr Handtäschchen gefunden, geöffnet, hineingegriffen und die Stummschaltung aktiviert hat; zum anschliessenden Telefonat drückt sie sich umstandsvoll nach draussen und erledigt zumindest dieses nicht am Platz. Rechts neben einem ein Paar, das aneinander umsetzt, was vorgesungen wird: „Wir wollen uns der Liebe freu’n, wir leben durch die Lieb allein.“ Während der Grossi links seinen Enkelkindern erklärt, wer gerade seinen Auftritt hat und dies auf der Brüstung mittrommelt (die zugehörige Grossi nimmt ihren Erziehungsauftrag leichter und versucht Smartphone-illuminiert „ins Heiligthum des größten Lichtes [zu] blicken“). Alles nah der Uraufführung.
Anders als das Publikum lässt die Stimmbesetzung nichts zu wünschen übrig. Diana Schnürpel ist nicht die Gruberova, meistert gleichwohl die enigmatischste und stimmlich exponierteste Rolle aller Mozart-Opern; eine Königin der Nacht, der man ihre Verzweiflung ebenso abnimmt wie ihre Rachegelüste. Düster, gewaltig, gesanglich einwandfrei. Sie war schon in Klagenfurt dabei, wie Ilse Eerens, eine selbstsichere Pamina. „Ach, ich fühl’s“ gelingt ihr tieftraurig und anrührend, sie kann aber auch fröhlich und harmoniert gut mit Papageno; die Premierenbesetzung sah Giada Borelli vor. Tamino (in der Premiere Filipe Manu) fällt, von Michał Prószyński interpretiert, ab. Er singt stellenweise blechern und schmettert, hat Probleme bei schnellen Wechseln zwischen Sprech- und Singpartien. Bestechend hingegen Jonathan McGovern. Der britische Bariton zählt erst seit dieser Spielzeit zum Ensemble. Ihm gelingt ein lebenslustiger und gut verständlicher Pagageno, der Schmäh hat, ohne herumzuwienern. Er bringt es fertig, die Rolle nicht ins Lächerliche abstürzen zu lassen, sondern sinnliche Lebensfreuden als akzeptable Option vorzustellen. Ihm ist mit Marie Rihane eine Papagena zugesellt, die ihre Rolle natürlich ausfüllt, auch gut singt.
Wie klingt Sarastro? Der wird von Christian Valle intellektuell und etwas distanziert, aber klug und rasch agierend gegeben, nicht altväterlich-behäbig und schon gar nicht patriarchalisch-sediert. Die Alternativbesetzung (zur Premiere Valle als 1. Priester/Geharnischter/Sprecher) mit Matheus França verhieß einen schwärzeren, massiveren, tieferen Sarastro. Valle verirrt sich „In diesen heil’gen Hallen“ im Text, übertönt das jedoch souverän. Caspar Krieger, darin am Münchner Gärtnerplatztheater mehrmals zu erleben, liefert einen triumphierenden, verletzlichen und glaubwürdigen Monostatos. So textsicher, dass er den übertitelten Änderungen nicht immer folgt und statt „Eine Schöne nahm mich ein“ den alten Originaltext wiedergibt. Abgewichen wird häufig: „Und ich soll die Liebe meiden, weil mein Aussehn häßlich ist.“ Damit wird die einzige Person of Colour, die es in einer Mozart-Oper gibt, herausgestrichen; Striche und Textänderungen führen zu fehlender Repräsentanz. „Der böse Mann verlangte Liebe“, singt Pamina nun, während Papageno zum Diversitätserklärer wird: „Es giebt ja verschiedne Vögel in der Welt, warum denn nicht auch verschiedne Menschen?“
Die Priester/Geharnischten (Kai Wegner und Andrés del Castillo) singen ordentlich, das gleiche gilt für die drei Knaben (Arlette Isenegger, Ranka Leunberger und Salome Frey) und besonders für die drei Damen (Katharina Willi, Lucija Ercegovac; hervorstechend Evegnia Asakova). Problematisch, dass viele Sänger oft hinten in der Bühne positioniert werden und sich kaum ansehen; gesungen wird nach vorn zum Publikum, was der Akustik dient.
Es gibt aktuell nicht viele Zauberflöten-Inszenierungen, die sich so stark am Textbuch orientieren und es zugleich so abändern. So ist Tamino („in einem prächtigen japonischen Jagdkleide“) asiatischer Krieger geblieben, Sarastro mit Sonnenzeichen versehen, die drei Damen aber erscheinen unbewaffnet, die Knaben kommen nie „in einem mit Rosen bedeckten Flugwerk“ oder ähnlich spektakulär vom Schnürboden herab, sondern laufen auf eigenen Füssen. In einer Umbaupause präsentieren sie wie Nummerngirls vor dem Vorhang Schilder: „Wir sind die drei Knaben“; „Eigentlich sind wir drei Mädchen“; „Die Knaben sind im Stimmbruch“. Gelächter. Das war es schon mit dem Ausbruch aus dem Erwartbaren. Ach nein; Sarastro stützt sich auf Astkrücken; ein hinfälliger Herrscher.
Die einfallslose Kostümgestaltung zeigt sowohl Damen, sternflammende Königin, Sarastro sowie seinen Sklavenhalterstaat (bis auf Monostatos) schwarz gekleidet. Im Schlusschor stehen die entmachtete Königin und Sarastro einträchtig beisammen und werden mit schwarzem Schleier zugedeckt, während Tamino zuvor „seinen nächtlichen Schleyer von sich reißen“ sollte. Sarastro nicht mehr als Brauträuber, der Pamina entführte, um sie zu heiraten („Zur Liebe will ich dich nicht zwingen“), eher als übergriffiger Vater im Sorgerechtsstreit, mit der Kindsmutter wieder kommunizierend. Das rote Federkleid Papagenos erinnert an Roussels Impressions d’Afrique und lässt den Vogelmenschen zum Schamanen werden; das ausgetriebene Afrika kehrt auch dadurch zurück, dass die wilden Tiere nicht analog anderer Kostüme realistisch kostümierte Menschen wären, sondern Schauspieler afrikanische Tiermasken wie in Ritualhandlungen tragen; Monostastos aber darf nicht Afrikaner bleiben.
Eine Zauberflöte für alle. Mit nichts, was Anstoss erregen könnte. Sex und Gewalt (man denke an die Neuenfels-Inszenierung der Komischen Oper Berlin) ausgetrieben. Rassismus (aber auch antirassistischer Humanismus) rausgestrichen. Misogynie verlustigt und komödiantisch überhöht. Rache? Mord? Verzweiflung? Die Königin der Nacht steckt mit Sarastro unter einer Decke, Monostatos und Damen werden statt zu „versinken“ eingemeindet. Kein „Wir alle gestürzet in ewige Nacht.“ Licht und Inklusion für alle. Zugleich: Wann hat man, von Premieren an großen Häusern abgesehen, in den letzten zweieinhalb Jahren einmal komplett ausverkaufte Aufführungen erlebt, Termin für Termin?
Ein wesentlicher Teil dieses Erfolgs verdankt sich der musikalischen Ausführung. Der von Zsolt Czetner einstudierte Chor ist exzellent, ebenso das Berner Symphonieorchester, von Thomas Rösner versiert dirigiert. Bereits die Ouvertüre gelingt schlüssig und kraftvoll, was anhält, besonders sind die Fagotte sowie die titelgebende Flöte mit Soloflötistin Johanna Schwarzl hervorzuheben. Die Pauke durchdringend, Theaterdonner übermäßig, es rumst gehörig. Rösner lässt bei Papagenos Abzählerei („Eins! Zwey! Drey! Nun wohlan, es bleibt dabey“) quälend lange Pausen einlegen, gewinnt an Tiefe. Papageno wird vom lustigen Halodri, der sich aus Lebensüberdruss erhängt, zum Verzweifelten.
Wer diese Klagenfurter/Berner Zauberflöte
sah, kann sich freuen; wer nicht, muss sich nicht grämen. Wird ab September 2023 wiederholt. Wer sie hörte, egal von welchem Platz (wichtig, von welchen Sitznachbarn umgeben), wird beglückt sein.