Strauss’ „Elektra“ in der Salzburger Felsenreitschule
Strauss’ „Elektra“ überzeugt in der Salzburger Felsenreitschule
Salzburg, 26. August 2021, Raphael Haghuber

Die Uraufführung der Oper „Elektra“ von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal 1909 in Dresden stellte den Beginn einer für das Musiktheater äußerst fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen eben diesen beiden Größen des damaligen Kulturbetriebs dar. Ihre freudianisch gefärbte Sicht auf den Atridenmythos trat einen Siegeszug um die Welt an, und bis heute arbeiten sich die großen Opernbühnen regelmäßig an diesem gewaltigen Musikdrama ab, das in seiner verdichteten musikalisch-sprachlichen Ausformung als Einakter nach wie vor Sogkraft entfaltet.

Wie man heutzutage von der blutigen Rachetragödie um die Tochter des Königs Agamemnon erzählen kann, demonstrieren alle Beteiligten dieser aktuellen Produktion der Salzburger Festspiele, die bereits 2020 ihre Premiere erfuhr und nun in weitgehend identischer Besetzung wiederaufgenommen wurde.

Eines gleich vorweg: Wer beim Kartenkauf davon ausging, dass sich hochdramatische Wagner-Stimmen über massive orchestrale Blöcke ergießen würden, mag enttäuscht gewesen sein, denn hier stand etwas gänzlich anderes im Zentrum als das Schwelgen in gesanglichem Luxus, wobei auch das natürlich seinen Reiz hätte. Stattdessen lag es den Verantwortlichen am Herzen, diesen Mythos ohne pathetische Überfrachtung neu zu erzählen, ihn vom Pathos zu befreien und eine Innensicht zu ermöglichen.

In diesem Gesamtkonzept scheint man der Fin-de-siècle-Hysterie der Elektra ebenso zu misstrauen wie den häuslichen Mutterwünschen ihrer Schwester Chrysothemis oder auch der (so oft) schrill überzeichneten Mutter Klytämnestra. Die schicksalhaft verwobenen Wege der Figuren werden bewusst stärker im Bezug zur Vorgeschichte und zu den Folgen der Opernhandlung aufgefächert. Paradoxerweise gelingt es genau dadurch, die Charaktere heutiger, moderner, nahbarer wirken zu lassen, vielleicht weil ihre Ambivalenzen bestehen bleiben dürfen. Es menschelt auf der Bühne!

Dirigent Franz Welser-Möst und Regisseur Krzysztof Warlikowski ziehen gestalterisch an einem Strang, was dem Abend ein hohes Maß an Stringenz verleiht, selbst wenn Warlikowski offen bekennt, dass er eher Fragen stellen möchte, als sie zu beantworten. Das Bühnenbild ist beispielsweise nicht mit Symbolik überfrachtet. Die ohnehin vorhandene archaische Präsenz der Felsenreitschule verbindet sich auf faszinierende Weise mit dem kreierten Bühnenraum, der eine Kreuzung aus Bad und Wartezimmer darstellt, einen Nicht-Ort, einen Raum des Übergangs. Auch das Wasser im länglichen Bassin, das fließende Lichtreflexe an die Wand wirft, sorgt für ständige Bewegung. Dem gegenüber steht eine massive Glasbox, ein für den Zuschauer nicht immer einsehbarer Raum im Raum, der das Spielen von Parallelhandlungen ermöglicht und die Sphäre der Macht und Familie repräsentiert. Allgegenwärtig ist das Zeigen ritueller Handlungen: das Waschen von Händen, das Säubern, das Trocknen mit Tüchern. Der Regisseur führt dadurch vor Augen, wie in diesem System mit dem Erbe der Bluttaten umgegangen wird. Es handelt sich um eine Welt mit Regeln und Gesetzen, aus der Elektra ausgeschlossen ist; sie wird diese gläserne Kammer nie betreten, nie wieder ein Teil dieser Gruppe sein, anders als Chrysothemis, die sich ständig zwischen allen Räumen bewegt, aber nirgends völlig dazuzugehören scheint. Warlikowski interessieren besonders die familiären Verflechtungen über Generationen hinweg. Geisterhaft muten die drei lebensgroßen Kinderpuppen an, Menschen allen Alters sind durch Statisten auf der Bühne präsent. Familie als geheimnisvolle Schicksalsgemeinschaft.

Und das Sängerensemble trägt diese Sichtweise mit. Michael Laurenz als schmieriger Anzugträger Ägisth vermag nur mit Abstrichen zu überzeugen. Immerhin weiß Christopher Maltman den Tatendrang von Elektras Bruder Orest mit autoritativer Stimme glaubhaft machen, aber noch interessanter ist sein stummes Spiel am Ende der Oper: Nach der Ermordung seiner Mutter und ihres Geliebten kann er seine Position als Familienoberhaupt nicht einnehmen, ergreift von den Erinnyen getrieben die Flucht, wie die Videoprojektion eines sich crescendoartig verdichtenden Insektengewimmels suggeriert.

Seien wir ehrlich: Wegen der beiden Männer sieht man sich die Oper auch nicht an. Wie so oft bei Strauss und Hofmannsthal sind es die Frauenfiguren, denen das wahre Interesse gilt. Asmik Grigorian, mittlerweile schon fast eine Salzburger Institution, stattet die Chrysothemis mit zielsicheren Spitzentönen und schlanker Stimmführung aus. Auch darstellerisch gelingt ihr das Portrait einer Frau, die sich nicht klischeehaft zart und verwundbar gibt. Sie kann als einzige Figur die Umwälzung der Machtverhältnisse in aller Konsequenz mittragen, obwohl sie zunächst Teil des Systems dieser Familie ist, vor deren Trümmern sie am Ende der Handlung steht. Die Klytämnestra der Tanja Ariane Baumgartner hebt sich ebenfalls von manch überholtem Besetzungsklischee ab: Hier kreischt keine abgehalfterte hochdramatische Sopranistin, die ihre Stimmruine als Ausdruck tarnt, um ihr Seelenwohl. Baumgartner singt diese Rolle im Vollbesitz ihrer vokalen Kräfte mit beeindruckender Registerverblendung und unter Vermeidung von greller Überzeichnung. Klytämnestra wird so zu einer zutiefst menschlichen Figur, deren Konflikte wir als Zuschauer nachvollziehen können. Ihre Traumerzählung gerät zu einem der Höhepunkte des Abends. Die Titelrolle erfährt durch Aušrinė Stundytė, eine weitere Salzburger Entdeckung, eine intensive und moderne Deutung. Weniger Rachediva als vielmehr unangepasste junge Frau, gibt sie so der Elektra das Mädchenhafte zurück, das ihr in vielen Produktionen dieser Oper verwehrt bleibt. Stimmlich mag sie an ihre Grenzen stoßen, aber dafür gestaltet sie Musik und Text in ihrer Verbindung so überzeugend, dass man wirklich am Drama teilnimmt.

Am Gelingen dieser Rollenportraits wie auch des gesamten Abends hat der Dirigent Franz Welser-Möst einen großen Anteil: Er bringt die Musik ins Fließen und lässt die Wiener Philharmoniker die Geschichte erzählen. Das mit dieser Oper bestens vertraute Orchester erzeugt einen dunkel grundierten Klang, auf dessen Basis sich zahlreiche Details, ungeahnte Zwischentöne und auch viel Zartheit entfalten können. Welser-Möst verliert sich jedoch nie in Mikrostrukturen, er lotst vielmehr souverän und umsichtig durch die Klippen der Partitur, hat dabei seine Sänger immer im Blick. Grelle Effekte und eine lautstarke Dauerbeschallung sind seine Sache nicht. Auch so kann man diese Musik überzeugend darbieten!

Es ist das Verdienst aller an dieser Produktion Beteiligten, dass das Drama menschlich und nahbar erscheint. Der Mythos überrollt einen hier nicht mit der Wucht einer Dampfwalze, sondern er wird als Geflecht aus inneren Zwängen erfahrbar gemacht. Und das ist ungemein spannend, wenn man bereit ist, sich von durchaus liebgewonnenen Erwartungen an diese gewaltige Oper zu befreien und einfach zu hören und zu sehen, was geschieht. Ein Opernabend, der lohnende Einsichten bereit hält.