Dieses Konzert stand zunächst nicht unter einem glücklichen Stern. Der vorgesehene Dirigent des Abends, Robin Ticciati, sagte aus privaten Gründen seine Teilnahme ab, und mit ihm verschwand auch die Dritte Symphonie Rachmaninows aus dem Programm, die wohlgemerkt eine Premiere für das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks dargestellt hätte. Der Einspringer, Hannu Lintu, hatte stattdessen die Zweite seines Landsmanns Jean Sibelius im Gepäck, die mit Sicherheit einen größeren musikalischen Kontrast zu dem in der ersten Konzerthälfte vertretenen Komponisten bot: Frédéric Chopin. Von einer sinnvollen Dramaturgie des Programms konnte man nicht mehr sprechen, aber das kann bei kurzfristigen Umbesetzungen nun einmal passieren. Wichtig bleibt schließlich, wie überzeugend das klingende Ergebnis gerät, und diesbezüglich darf man von gemischten Gefühlen sprechen.
Das Zweite Klavierkonzert Chopins, das chronologisch gesehen eigentlich als sein erstes gelten müsste, fand in Emanuel Ax einen erfahrenen Interpreten, der dieses Werk bereits in zweifacher Ausführung auf Schallplatte (zusammen mit Ormandy in den 70ern und dann mit Mackerras in den 90ern) vorgelegt hat. Nun ist Ax − die 70 hat er bereits überschritten − mittlerweile unbestritten in die Riege der Grandseigneurs der Pianisten aufgerückt, und so wird man an diesem Abend Zeuge einer über alle Zweifel erhabenen Klavierkunst, die sich nichts mehr beweisen muss und die Zurschaustellung von Effekten konsequent vermeidet. Im Verbund mit den hellwach begleitenden BR-Symphonikern zeigt sich ein Juwel der romantischen Klavierliteratur in einem lichten Glanze: Die Musik fließt unprätentiös und organisch sich entwickelnd, wirkt niemals anbiedernd oder schwülstig. Ax gelingt auf diese Weise das Kunststück, Chopins Zweites Klavierkonzert der Sphäre des Salons zu entführen, ihm aber dennoch seine Poesie zuzugestehen. Die brillante Technik des Pianisten ist dabei immer in den Dienst einer feinsinnigen und intimen Interpretation gestellt und öffnet den Weg zu einer in ihrer Natürlichkeit und Schlüssigkeit beeindruckenden Chopin-Lesart. Hannu Lintu unterstützt diesen Ansatz durch ein aufmerksames und zielsicheres Dirigat. Der Orchesterklang bleibt schlank und durchsichtig, und Ax hat sichtlich Freude am Zusammenspiel mit den Musikerinnen und Musikern; allen Beteiligten geht es um einen gemeinsamen Atem, geschmackvolle Rubati, letztlich um einen kammermusikalischen Gestus. Besonders der Zweite Satz wird so zu einem Mirakel an zarten Schattierungen und driftet trotzdem nie in Kitsch ab. Die drei Preziosen, die Emanuel Ax im Anschluss daran noch als Zugabe spielt, bestätigen nur seinen Rang als intimer Geschichtenerzähler. Man bleibt tief bewegt zurück.
Der Debütant des Abends, der finnische Dirigent Hannu Lintu, wollte dann in der zweiten Konzerthälfte mit Sibelius' Zweiter Symphonie, uraufgeführt 1902, ein Ausrufezeichen setzen. Jean Sibelius ist auch heute noch nicht rückhaltlos in den deutschen Konzertsälen durchgesetzt, was mit seiner sehr eigenen Tonsprache zusammenhängt, die beim Hören immer neue Rätsel aufzugeben scheint und einen mitunter schroff von einer Stimmung in die nächste wirft. Das Kompositionsprinzip dieser Zweiten Symphonie macht es einem auch nicht leicht mit seiner ständigen Metamorphose einer eigentlich abstrakten musikalischen Zelle aus drei Tönen im Rahmen einer Terz. Aus diesem knappen Material, das kaum mehr als Thema bezeichnet werden kann, entwickelte Sibelius ein immer dichter werdendes Netz, das die gesamte Symphonie umfasst und sie ganz nach dem Motto Per aspera ad astra im finalen Satz zu einem hymnisch anmutenden Schluss bringt.
Hannu Lintu dirigiert mit energischem Ausdruck und setzt das Orchester unter Hochspannung. Leider gelingt, vermutlich auch gerade wegen dieses eruptiven Dirigats, die Abstimmung hinsichtlich der Tempi und der Klangbalance nicht immer überzeugend. Das mag auch an einer geringen Probenzeit liegen, aber alles in allem will Lintu zu viel und das dauernd; die Rätsel und Mysterien, die Sibelius und seinen Klangkosmos eben auch auszeichnen, nehmen in dieser Deutung zu wenig Gestalt an. Die Aufgewühltheit und die scharfen Kontraste in den ersten beiden Sätzen sind durchaus überzeugend realisiert, aber die Phasen der Introspektion stellen sich nicht ein. Der dritte Satz, nervös und flirrend im Ausdruck, mündet schließlich im gipfelstürmenden, hymnischen Finale, doch auch hier treibt Lintu schon sehr früh die Klangwogen in extreme Dynamikbereiche, als setze er alles auf eine Karte: Sibelius als Überwältigungsmaschine. Es beeindruckt natürlich, wie prägnant sich die Bläsergruppen immer wieder gegen den breiten Streicherteppich durchsetzen und mit welchem Körpereinsatz der Dirigent das Orchester befeuert. Allerdings ist man als Zuhörer am Ende banal gesprochen platt, ja fix und fertig. Der Herkulessaal eignet sich für solche Lautstärkeextreme am oberen Bereich der Skala eben nur bedingt. Es wäre schön gewesen, wenn Hannu Lintu, der sich als Impulsmusiker mit hoher intuitiver Kraft zeigt, auch loslassen hätte können.
Und so bleibt vor allem die erste Konzerthälfte in positiver Erinnerung, als poetisches Wunder eines feinsinnigen Chopin-Exegeten ersten Ranges, während der zweite Teil des Programms einen Sibelius präsentierte, der, so unter Hochdruck gebracht, fast zu zerbersten drohte.