Mit George Enescus Œdipe bringt die Komische Oper zum Saisonauftakt (Premiere am 29. August, weitere Aufführungen am 2., 7., 11. und 26. September 2021) ein Stück auf die Bühne, an dem man sich leicht verheben oder zumindest gehörig die Finger verbrennen kann. Zu groß, zu monströs, zu gewaltig (und gewaltsam) ist nicht nur der Mythos um den schuldlos-schuldigen König von Theben, sondern auch seine bedeutendste Ausprägung im Musiktheater. Während es recht viele Elektras, Iphigenies oder grundsätzlich Ausarbeitungen des Atriden-Stoffes für die Opernbühne gibt, ist Ödipus dort – trotz oder wegen der enormen Bedeutung, die gerade sein Mythos schon bei Aristoteles als Tragödie aller Tragödien und entsprechend in den europäischen Poetiken als Essenz des Tragischen schlechthin aufweist, etwa auch bei Freud und grundsätzlich für die Psychoanalyse – kaum anzutreffen. Es gibt neben Strawinskys Oedipus Rex mit Cocteau-Libretto von 1927 oder Orffs Oedipus der Tyrann nach Hölderlin auf der Opernbühne rein gar nichts. Was nicht daran liegt, dass Vatermord und Mutterinzest ungeeignete oder ungebräuchliche Opernsujets wären, hat es daran doch anderswo keinen Mangel.
Dabei war George Enescus (1881–1955) opus magnum (genauer op. 23; er schrieb deutlich mehr, als er gültig veröffentlichte, kam bis zum Lebensende aber lediglich auf 33 Werke, die er bestehen ließ) schon immer eine Runde zu groß und zu gewaltig. Der junge rumänische Musiker arbeitete über ein Vierteljahrhundert an seiner einzigen Oper und trug sich mit dem Stoff seit 1909. Ein Theaterbesuch in der Comédie-Française, wo Jean Mounet-Sully die Titelrolle im Oidipous des Sophokles spielte, bewegte Enescu tief und verankerte Ödipus als sein ureigenes Lebenswerk und Lebensthema („toute existence a son aventure, son drame secret. Mon ressort à moi, mon drame et mon aventure tiennent en trois syllabes que Sophocle a rendues fameuses: Œ-di-pe.”). Es dauerte bis 1936, dass die 1931 fertiggestellte Tragédie lyrique, die schon 1917 im Klavierauszug vorlag, in Paris uraufgeführt werden konnte. Edmond Flegs früheste Librettoversion von 1913, die nicht nur Oidipous Tyrannos, sondern auch Teile von Oidipous auf Kolonos einbindet, war so umfangreich, dass sie nie an einem Abend gespielt hätte werden können. Enescu forderte Kürzungen und perfektionierte immer weiter; allein die Instrumentalisierung des fertigen Stücks nahm fast zehn Jahre in Anspruch.
Œdipe-Aufführungen sind bis heute rar geblieben, auch wenn es sie 2013 in Frankfurt und 2019 in Salzburg gab; die letzte in Berlin liegt ein Vierteljahrhundert zurück, 1996 an der Deutschen Oper mit Götz Friedrich als Regisseur und Lawrence Foster als Dirigent, und wurde sogleich als Wiederentdeckung des Jahres in der Opernwelt ausgezeichnet. Es ist mutig, wenn in Barrie Koskys letzter Saison als Intendant der Komischen Oper dieser schwere Brocken auf die Bühne kommt, noch dazu in der Inszenierung eines Regisseurs, der nicht gerade für leichte Kost und gefällige Regie bekannt ist. Der in Kasachstan geborene Evgeny Titov machte auf den Salzburger Festspielen 2019 mit Gorkis Sommergästen Furore, brachte als Erstinszenierung 2014 eine Elektra auf die Bühne oder letztes Jahr in Wiesbaden Šostakovičs Ledi Makbet. Mit großen gewaltaffinen Stücken kennt er sich also gut aus.
Die Komische Oper hat sich, ein Erbe aus der Zeit von Walter Felsenstein, über lange Jahre die Tradition erarbeitet, das ‚Theater‘ in ‚Musiktheater‘ groß zu schreiben und so wichtig zu nehmen wie die musikalische Aufführung. Dass Regie und Inszenierung entsprechend hoch gewichtet werden, bedeutete nicht, dass darunter die Musik leiden müsste, die Inszenierungen waren (und sind es geblieben) eben zusätzlich durchgehend auf hohem schauspielerischem und theatralischem Niveau. Das verlangt den Darstellern eine Extraportion Schauspielerei, Gestik und Bühnenpräsenz ab. Entsprechend wird fast immer auf deutsche Übersetzungen zurückgegriffen, auch um bessere Verständlichkeit der Produktionen zu gewährleisten.
Bei Enescus selten gespieltem Hauptwerk verhält es sich allerdings so, dass die französische Fassung gesungen wird, was grundsätzlich eine gute Wahl ist. Œdipe gehört der romanischen und lateinischen Welt an, funktioniert besser, wenn über das französische Idiom auch die entsprechend andere, südliche Mythentradition mittransportiert wird. Leider gab es gerade im ersten Akt Fälle, bei denen die allesamt nicht muttersprachlichen Darsteller, wären sie im Französischen flüssiger gewesen, noch eindrücklicher und überzeugender hätten wirken können. Das liegt freilich auch an diesem sehr fordernden Stück, das zwischen Sprechen und Singen changiert und Betonungen des gesprochenen Französisch erfordert, die teilweise fast unsingbar und für die Bühne ungebräuchlich sind, Stöhnen, Röcheln, Schreien, Lachen und Weinen inbegriffen. Zumindest war die schwierigste Partie, die der Sphinx, mit der serbischen Mezzosopranistin Katarina Bradić exzellent besetzt.
Nun ist Enescus einzige Oper jenseits ihres tragischen und gewalttätigen Sujets musikalisch ein echtes Wunderwerk. Sie besteht aus allem, was diesen rumänischen Musikmeister und Meistermusiker ausmacht: einer handwerklich strengen und präzisen Ausarbeitung von Themen, der Verbindung von volkstümlichen rumänischen Melodien und mündlichem osteuropäischem Liedgut, auch der Melodieführung, wie sie in kleinen kammermusikalischen Formationen gebräuchlich ist. Œdipe fordert laut Partitur neben dem gebräuchlichen Orchester nicht nur zwei Harfen, Blasinstrumente wie Saxophon und Kontrabasstuba, sondern auch eine Celesta, ein Harmonium, Wind- und Donnermaschinen, sogar eine singende Säge. Es sind Revolverschüsse und der Gesang einer Nachtigall vorgesehen. Auch der Sängerbedarf ist gewaltig, es braucht neben den Standardstimmen vier Baritone und vier Bässe, vom riesigen Chor abgesehen. Es ist definitiv große Oper, was sich auch in den grandiosen Instrumentierungen zeigt, wo Lautstärke und Vollklang nichts zu wünschen übrig lassen. Neben einfachsten Liedern und volksliedhaften Partien gibt es heterophone Melodik, die Überwindung von Dur und Moll und Rückgriffe auf einfache tonale Strukturen, was den Œdipe in die Zeit frühester archaischer Musik transponiert und diese unmittelbar und direkt erfahrbar werden lässt.
Titov hat das aus vier Akten und sechs Tableaux bestehende Bühnenmonstrum ziemlich zurechtgestutzt. Allerdings nicht mit blutigem Beil auf Bonsaigröße, eher mittels (auch schmerzhafte Wunden ermöglichender) Nagelschere, so gibt es eine auf 115 Minuten gekürzte Fassung (normal sind ohne Kürzungen etwa 150 Minuten), die ohne Pause durchgespielt wird. Das fordert nicht nur den Darstellern, sondern auch dem Publikum einiges ab, lässt die Kurzfassung doch an Dramatik kaum etwas aus und erst recht nicht an Drastik der Darstellung. Ruhepausen gibt es keine. Titovs Inszenierung erfordert einen starken Magen oder lässt es zumindest ratsam erscheinen, erst nach dem Opernbesuch zum Essen zu gehen, falls dann noch Appetit bestehen sollte. Abverlangt wird gerade den Sängern viel, besonders der Œdipe ist eine Kraftaktrolle, wo mit unglaublicher Dynamik und Artikulation gesungen wie gesprochen bzw. sprechgesungen wird, was der amerikanisch-britische Bariton Leigh Melrose aber meist ganz gut hinbekam.
Das Bühnenbild von Rufus Didwiszus tat ein übriges, um Beklemmung, Klaustrophobie, aber auch blankes Entsetzen auszulösen. Es gibt keine thebanischen Olivenhaine oder schönen Ägeis-Ausblicke vom Altersitz in Kolonos, wie in den Szeneanweisungen vorgesehen, sondern glatte Stahlwände, die an einen Schlachtraum oder Hochbunker erinnern, den man nicht lebend verlassen wird. In der Mitte eine Vertiefung, die als Pool oder Atrium gelten könnte, wäre sie durchgehend mit Wasser angefüllt und wäre auch die Ausleuchtung freundlicher (Licht Diego Leetz). So assoziiert man damit eher die Blutwanne eines Schlachthauses oder, wenn schwarze Farbe an den Wänden herabrinnt, eine Jauchegrube, auch einen Richtplatz oder Exekutionsort.
Melrose übernimmt als Œdipe also die wichtigste Rolle des Stücks mit den stärksten dramatischen und musikalischen Anteilen. Auch er singt kein reines Französisch, aber es ist pedantisch, darauf zu insistieren, als wäre, was ein Sänger für diese Rolle zu leisten hat, nicht gewaltig genug. Er wird von Karolina Gumos als Jocaste gut begleitet. Auch Mirka Wagner als Antigone stützt den blinden Vater stimmlich. Überhaupt haben die Sänger nicht nur musikalisch und sprechtechnisch, sondern gerade als Darsteller ein beachtliches Pensum zu absolvieren. Titov scheucht sie in einem Tempo über die Bühne, dass der für Operngesang oftmals beanspruchte Vergleich mit Hochleistungssport körperlich spürbar wird. Zugleich lässt der Ursprung des Dramas im Tanz, im Schritt des Metrums und der rhythmischen Bewegung, eine solche Beweglichkeit der Darsteller, die sich fast ins Tanztheater verschiebt, sinnvoll erscheinen. Für die Komische Oper Berlin ist all das (Tragödie; Französisch; Splatterästhetik) freilich nicht nur ungewöhnlich, sondern bis in die Besetzung von Riesenchor und -orchester hinein eine wahnsinnige Anstrengung, die größte Hochachtung verdient. Jede schmal besetzte Operette, bei der das gutgelaunte Publikum in der Pause fröhlich Schampus und Häppchen konsumiert, ist ökonomisch deutlich weniger riskant.
Neben Melrose in der Titelrolle singt Jens Larsen den Tirésias. Er ist ganz und gar großartig, ein tiefer Bass, der die Verzweiflung, die seine Prophetie beim Königspaar und später beim erwachsenen Ödipus hervorrufen wird, bereits in der Stimme deutlich für alle spürbar macht. Tirésias ist durch seine schaurig umgesetzte Blindheit, er trägt keine Augenbinde, sondern hat mit Haut überwachsene Augenhöhlen (Maske Tobias Barthel), eine beängstigende und verstörende Person, die immer auf die tiefen und grausamen Geheimnisse verweist, in denen die Sage gründet (hätte Laios keinen Frevel begangen und gegen das Gastrecht verstoßen, wäre er von Pelops nicht verflucht worden und hätte nicht seinen eigenen Mörder gezeugt …). Tirésias sieht nichts und weiß doch alles, verkörpert auf der Bühne nicht nur die Unentrinnbarkeit des Schicksals, sondern auch Recht und Gesetz. Im dritten Akt laufen ihm wie dem durch Johannes Dunz gleichfalls grandios verkörperten Hirten schwarze Farbgerinnsel über den ganzen Leib, was an Schwarzweißfilme erinnert, wenn Helden verbluten; Larsen und Dunz bewegen sich und singen mit einer solchen Kraft und Bühnenpräsenz, dass sie alle in ihren Bann schlagen. Zur Aufklärung der Vorfälle sind beide komplementär nötig. Um zu zeigen und um zu bezeugen, was vorfiel, der eine als blinder Seher, dem nichts verborgen bleibt, der andere als Werkzeug des Schicksals und direkter Augenzeuge.
Auch die anderen Rollen sind gut verkörpert, die Einschränkung des gesungenen wie gesprochenen Französisch wurde erwähnt; Joachim Goltz als Créon und Christoph Späth als Laios können sich sehen und hören lassen, haben durch die Strichfassung aber nicht mehr so viel zu tun. Auch das ist nicht uninteressant. Die Kürzungen exekutieren die für die Ödipus-Konstellation nicht unwichtigen Vaterfiguren (sozialer vs. leiblicher Vater, die auf den Fluch unterschiedlich reagieren) gänzlich aus der Oper, degradieren sie zu Nebenrollen, lassen sie gar ein zweites Mal verschwinden, Vatermord mal zwei. Was dem Sohn unüberlegt im Zorn passiert, erledigt der Regisseur ganz vorsätzlich und bewusst. So wird am Ende des zweiten Akts, als Laios vom eigenen Sohn getötet wird, weil keiner dem anderen ausweichen will, alles reduziert auf das unsichtbar gesungene „Arrière, esclave! Arrière!“; dann geht das Licht aus, im nächsten Augenblick sieht man ihn wie in der Geisterbahn blutverschmiert und mit heraushängenden Eingeweiden an der Wand liegen. Laios kehrt als blutige Sitzleiche mit offenen Augen im dritten und vierten Akt immer wieder zurück, hält seinen Sohn als Säugling im Arm, den er ja ebenfalls dem Tod auslieferte, mit monströs vergrößertem Kopf statt geschwollener Füßen (die Durchschneidung der Sehnen oder Zertrümmerung der Knöchel, um das Überleben und die Rückkehr des Sohnes zu verhindern, führt dazu, dass auch der erwachsene Oidipous nie richtig laufen wird, Schwellfüße aufweist, aber, auch darauf verweist der Name und die Puppe, die von Johannes Dunz als Hirten eindrücklich gespielt und präsentiert wird, eben auch ein großkopferter Alleswisser wird).
Karolina Gumos ist eine überaus attraktive Jokaste, die glaubwürdig macht, dass sich ihr Sohn nicht nur der Königsherrschaft wegen auf sie einlässt. Sie singt und tanzt überragend, wirkt im weißen peplosartigen Kleid wie eine Braut, schleift zuvor auf einer schwarzen Schleppe als Witwe aber recht zügig den toten Gatten hinter die Bühne. Ihr Selbstmord ist – auch musikalisch – vielleicht noch grauenvoller als die Blendung des Sohnes, wenn dieser sich, dem Publikum den Rücken zuwendend, von einem lauten Schreien begleitet die Augen aussticht.
Katarina Bradić singt eine überragende Sphinx, die sich, dramatisch nicht uninteressant, nach ihrem Tod in rotem Gewand wieder in Theben zeigt und Œdipe seine Mutter wie eine Trophäe zuführt, als dämonischer Hochzeitslader, auf diese Weise den eigenen Tod rächend. Ihre Partie erfordert, gleichzeitig lachend und weinend zu sterben, sie singt die musikalisch modernste und herausforderndste Musik in Vierteltönen, wo ihre verebbende Stimme schließlich von einer singenden Säge weitergeführt wird. Das ist einmalig und löst recht ambivalente Regungen aus. Auch Susan Zarrabi als Mérope, sie hat freilich nur einen recht kurzen Einsatz im zweiten Akt und wird später als gealterte soziale Mutter des Titelhelden von einer Statistin im Rollstuhl gemimt von Kreon auf die Bühne geschoben, singt recht gut. Etwas enttäuschend hingegen sind Vazgen Gazaryan und Shavleg Armasi als Grand prêtre sowie Veilleur, aber das sind auch keine Rollen mit riesigen Einsätzen.
Als Besonderheit gibt es die Positionierung des Chors; Œdipe ist eine Choroper und verlangt zusätzlich zum konventionellen Opernchor einen Kinderchor, zudem gibt es Verstärkung durch das Vocalconsort Berlin. In der attischen Tragödie, entsprechend auch bei Enescu, dessen Librettist Fleg sich an Sophokles orientierte, hat der Chor eine tragende dramatische Funktion. Diesmal singt er aus Hygienegründen nicht auf der Bühne, sondern vom für das Publikum gesperrten zweiten Rang. Das passt gut, weil er als „Chœur invisible“ oft auch unsichtbar bleibt und dann nicht auf der Bühne zu sehen ist. Vom Rang dirigierte David Cavelius (mit Leuchtstab) in enger Zusammenarbeit mit dem im Orchestergraben stehenden GMD der Komischen Oper, Ainārs Rubiķis, was erstaunlich gut gelang. Auch ergibt sich durch diese Platzierung nicht nur musikalisch eine auffällige Ausweitung (auf der Bühne sind Statisten zu sehen, die stumm bleiben), die überzeugend ausfällt, ist der Chor auf diese Weise auch hinter dem Publikum und etwas seitlich davon platziert. Die optische Guckkastenbühne, die statisch und karg den Wechsel der Tableaux im Bühnenbild und die unterschiedlichen Spielorte gerade nicht abbildet, wird musikalisch-räumlich vergrößert und erweitert.
Die Chorverlagerung in einen 360-Grad-Kreis, das Publikum sitzt mitten in der Musik, ist auch hinsichtlich solcher Fragen, welche Gegenwart die Tragödie im 20. (und besonders im 21.) Jahrhundert noch beanspruchen kann, von Belang. Die Ausweitung der Musikzone, die es in der Komischen Oper fast immer gibt (Musiker in den Proszenienlogen, Schauspieler oder sogar Sänger auf den Rängen oder im Parkett, Statisten quasi überall) wirkt gelungen, weil die Volksposition, die der Chor einnimmt, auf diese Weise auf die Platzpositionen des Publikums verlagert wird. Hübsch ist die Idee, die beiden Harfenistinnen mit ihren Instrumenten gut sichtbar links vorne im Parkett zu platzieren, wodurch diese frühesten archaische Seiteninstrumente (Leier, Lyra, Kithara) auch besonders exponiert werden.
Damit hat es sich aber auch schon mit den partizipativen Anteilen, was gemessen am Bühnengeschehen, das so blutrünstig ausgestaltet wird, angenehm erscheinen mag. Distanz hat mitunter auch etwas Gutes. Schon die ersten Takte zeigen die Geburt des Titelhelden in aller kreatürlichen Direktheit, später wird an Schreien, Bluten, Kopulieren, Sterben, Leiden und deutlich fühlbaren Schmerzempfindungen auf der Bühne kein Mangel sein. Es gibt ja auch einiges darzustellen: körperliche Verstümmelung und Aussetzung schutzbefohlener Minderjähriger, Totschlag wenn nicht gar vorsätzlicher Mord, Inzest mit Verwandten ersten Grades, Suizid, Selbstverstümmelung bzw. Selbstblendung. Das alles ist, ganz klar, im Mythos und entsprechend auch im Libretto angelegt. Doch ob man einen blutverschmierten Ödipus mit blutigen Augenhöhlen deutlich zeigt oder nicht, ob und wie man zeigt, dass sich Iokaste das Leben nimmt, ist eine Entscheidung, die nicht folgenlos ausfällt. Auch die Verkürzung auf weniger Text und Streichungen von Nebensträngen verdichtet die Gesamthandlung auf Ödipus.
Das liegt durchaus in Enescus Anlage, geht es ja um die Biographie des einzelnen exemplarischen Menschen, dem er sich selbst so stark verbunden fühlte. Anders als Richard Strauss, den man in einer deutschen Mythenrezeptionstradition sehen kann, die über Burkhardt, Nietzsche, auch Freud bis hin zu Hofmannstal als Librettisten reicht, ist Enescu (neben Stravinsky oder Debussy) jemand, der die romanische Seite des Mythos in die Musik einbringt. Das geschieht reichhaltiger, bunter und damit vielleicht sogar historisch korrekter als die an historistischen Theorie- und Kulturmodellen ausgerichteten Aneignungen eines archaischen Griechenlands, wie sie in der deutschsprachigen Tradition zu finden sind. Zumindest ist Enescus Musik fremder als vieles in dieser nördlichen Tradition, erschafft den Mythos auf der Bühne auf eine Weise, die zugleich attraktiv und abstossend ist, deckt das Verstörende nicht versöhnlich zu. Auch die bukolischen Momente, etwa von Flötenmusik begleitete Lieder der Hirten, wirken fremd und bedrohlich, was durch das unwirtliche Bühnenbild und harte Licht verstärkt wird.
Was aufgrund des musikalischen Reichtums also pure Schönheit sein könnte, wird durch die Brutalität der Sage, entsprechend auch des Textes, zugleich aber auch durch die Fremdheit der Musik immer wieder zerstört. Titov tut mit seiner krassen Inszenierung ein übriges, um die Komfortzonen des Publikums weiter zu durchwühlen und zu verletzen: Laios hängen die blutigen Gedärme heraus, Ödipus ist ab dem dritten Tableaux nur noch mit blutverschmiertem Hemd zu sehen. Kunstblut und schwarze Farbe kommen reichlich zum Einsatz, Iokaste wird von Karolina Gumos als drastisch fordernde Nymphomanin gespielt, der man eine Bestürzung über die Ermordung des königlichen Gemahls kaum abnimmt. Hat sie dann auch vier Kinder mit dem eigenen Sohn, bis die Pest bzw. Teiresias ans Licht bringt, was verborgen blieb, und die lustige Bettgemeinschaft mit einem Mal problematisch wird.
Die drastische Darstellung Titovs verstellt ein wenig das versöhnliche Ende, das Enescu für seine Mythos-Nacherzählung findet, in dem der gealterte Blinde in Begleitung seiner Tochter Antigone ganz zum Seher und Weisen geworden ist (die Spiegelung mit Sphinx und Teiresias und Verblendung/eigener Blendung gehört grundlegend zum Mythos). Bei Enescu wird Œdipe am Ende gerettet, erlöst, das Publikum ganz im Sinne einer katharischen Reinigung ausgesöhnt mit den schrecklichen Ereignissen, denen es zuvor ausgesetzt war. Bei Titov ist das nicht der Fall, er verweigert diese Rettung, was auch eine bewusst gewählte Position darstellt: Der Mythos hat nichts Versöhnliches mehr, wird nicht behaglich restauriert, ist vielleicht auch gar nicht aktualisierbar, nur als Erinnerung und Nostalgie vorstellbar. Das 21. Jahrhundert ist selbst zu brutalisiert, um sich noch mit Aussöhnungen abfinden zu können.
Das ist bedenkenswert, konnte auch Enescu 1936 in Paris nicht ahnen, was sich in den Folgejahren in seiner Wahlheimat zutragen würde und was als conditio humana auch in seinem Geburtsland Rumänien, das 1941 offiziell in den Weltkrieg eintrat und bei Pogromen und der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden mit dem nationalsozialistischen Deutschland schändlich kooperierte, ändern sollte. Zugleich lehnt Titov in einem lesenswerten Interview mit dem Dramaturgen Ulrich Lenz zu einfache Gleichsetzungen strikt ab; Theater (und Musiktheater wohl noch mehr) stehe über der Gegenwartsnachahmung, sei genuin Kunst, auch eine Gleichsetzung der Pest in Theben mit der aktuellen Pandemie greife zu kurz und sei daher „zu banal“: „Ich empfinde es als armselig, wenn man nicht mehr zu sagen hat, als das zu reproduzieren, was ohnehin sichtbar ist. Das macht das Fernsehen. Aber das Theater ist eine Kathedrale, ein Tempel. So ist es ja auch entstanden: aus einer kultischen Handlung, die auf etwas Höheres, eine metaphysische Ebene verweist.“
Bei Enescu wird die Frage der Sphinx zentral, zu deren Auftritt ein die ganze Zeit über der Bühne schwebendes Leuchtröhrengefüge angeknipst und herabgelassen wird, es wirkt wie eine Kunstinstallation von Donald Judd oder wie eine überdimensionierte Solariumliege. Katarina Bradić singt mit weggeschminkten Haaren und merkwürdig körperlos, abgewandt. Sie fragt nicht mehr ein eindeutig lösbares Rätsel, auf das Ödipus dann „der Mensch“ antworten kann, sondern gleich danach, was größer als das Schicksal sei („quelqu’un ou quelque chose, qui soit plus grand que le destin“). Die Antwort bleibt die gleiche, stärker sei nur der Mensch, aber Œdipe muss auch zeigen, wie sein späteres Leben zur Antwort auf diese Frage werden kann. Hier setzt auch Titov an. Für ihn ist das Fehlen einer Erlösung die letztlich radikalere und ehrlichere Version des Mythos´, wenn der gealterte Blinde einsieht, dass sie nie mehr kommen wird: „Er hat 60 Jahre lang auf eine Erlösung gewartet, die nicht gekommen ist. Er erkennt, dass sie nicht kommen wird. Aber da ist er an einen Punkt gelangt, an dem das keine Rolle mehr für ihn spielt. […] Was ihn am Ende verändert, ist das Ausbleiben einer Erlösung. Genau das macht ihn letztlich frei und unabhängig.“
Enescus Oper endet mit einem letzten Auftritt der Eumeniden, die nach den Alten von Athen das letzte Wort haben. Sie trauern nicht, sie rühmen Œdipe, der sie anspricht, als sie zum ersten Mal zu hören sind, um ihn abzuberufen: „Bienveillantes! Bienfaisantes! Elles m’appellent!“ Das letzte Wort bleibt somit den Unaussprechlichen vorbehalten. Sie singen, das heißt der unsichtbare Chor singt: „Heureux celui dont l’âme est pure: la paix sur lui!“ Mit diesen Worten schloss ein fast zweistündiges Spektakel, wie man es selten zu sehen und hören bekommt und für das man dankbar sein darf. Trotz aller Herausforderungen und Zumutungen, die in dieser Produktion damit verbunden sind, war das Publikum zurecht begeistert und applaudierte im Stehen.