Es war Rettung in letzter Minute: Nachdem der Regisseur Paul-Georg Dittrich aufgrund künstlerischer Unvereinbarkeiten, wie es im Pressetext der Hamburgischen Staatsoper heißt, zwei Wochen vor der Premiere das Handtuch geschmissen hat oder hat schmeißen müssen, konnte man David Bösch mit seinem Team (Patrick Bannwart und Falko Herold) kurzfristig verpflichten, die Neuproduktion von Mozarts Singspiel „Die Entführung aus dem Serail“ zu übernehmen. Während Dittrich eine an Sigmund Freud angelehnte Deutung der Oper zeigen wollte, in der die Sängerinnen und Sänger Aspekte der Figur des Bassa Selim gewesen wären, erzählt Bösch sehr geradeheraus von der Herrschaft der Liebe, die alles, was böse ist, überwindet – so Burghart Klaußner als Bassa Selim in einem kurzen, gesprochenen Prolog vor der Ouvertüre.
Auf der schwarzen Bühne der Staatsoper sieht man nicht mehr als ein paar Matratzen und ein Sofa, aber durch teils witzige, teils auch romantische Zeichnungen und Videos, die groß auf den Bühnenhintergrund projiziert werden und die man ähnlich von anderen Bösch-Inszenierungen kennt, entsteht eine schlüssige Gesamtatmosphäre. Bösch erzählt die Geschichte der beiden Liebenspaare gradlinig; ungewöhnlich ist, dass ein Schwerpunkt seiner Geschichte auf Bassa Selim liegt, der kein herrschsüchtiger Tyrann, sondern ein alter, verliebter Mann ist, der mühsam lernt, dass zur Liebe das Loslassen gehört. Und diesen Weg nimmt er auf sich, weil er der Liebe zur Herrschaft verhelfen möchte.
Freilich bleibt bei zwei Wochen Probezeit dann auch vieles auf der Strecke: Eine genaue Personenführung fehlt, manche Ideen wiederholen sich, und es wirkt alles ein wenig improvisiert, so als würde man einer Repertoireaufführung beiwohnen, deren Premiere schon länger zurückliegt. Aber immerhin ist es erfreulich, dass es noch ein großes deutsches Opernhaus gibt, in dem in einer Neuinszenierung von Mozarts Singspiel nicht der Konflikt zwischen Christentum und Islam beschworen, in dem nicht toxische Männlichkeit gegenüber Frauen zum Thema gemacht und ausnahmsweise auch kein Aspekt der polarisierten Feuilleton-Blase auf der Bühne ausgebreitet wird. Dem Publikum hat es jedenfalls ausgesprochen gut gefallen.
Auch musikalisch ist Positives zu berichten, vor allem aus dem Orchestergraben. Mit ebenso großer Leichtigkeit wie Präzision, ohne Routine und mit viel Aufmerksamkeit für Details leitete Adam Fischer das Philharmonische Staatsorchester Hamburg. Die Sängerinnen und Sänger waren allesamt gut, aber auch nicht wirklich glanzvoll, wie es eine Premierenserie eigentlich verdient hätte. Tuuli Takala als Konstanze steigerte sich vor allem im dritten Akt. Während man vor der Pause dann doch immer wieder einen warmen, reifen Klang vermisste, die Koloraturen zwar technisch sauber, aber merkwürdig ausdruckslos gelangen, blühte ihr schöner Sopran schließlich überraschend auf. Narea Son, die Bösch als junge und dann aber doch arg zivilisierte Punkerin konzipiert hat, bewältigte die Partie des Blondchen ebenfalls gut, wenn auch vom Text nichts zu verstehen war. Die Rolle des Osmin, bei Bösch der Wächter des Nachtclubs ‚Serail‘, wurde von Ante Jerkunica mit sonorem, aber auch etwas eintönigem Bass gesungen. Michael Laurenz gab einen spielfreudigen Pedrillo mit kräftiger Stimme, und als Belmonte sprang Martin Mitterrutzner kurzfristig mit einem schönen, stellenweise jedoch etwas angestrengten Mozarttenor ein. Längerer Jubel im Publikum für einen Abend, der, mit Ausnahme des Orchesters, eher einer guten Repertoireaufführung als einer Premierenserie glich. Aber dafür hatte dann auch ein jeder Verständnis.