Es ist so schön im Tomaselli
Eine Salzburger Geschichte
Salzburg, 18. August 2023, Werner Fischer

Für uns ist das einer der schönsten Plätze auf der Welt und beinah der allerliebste; hier zu sitzen in der Nachmittagssonne des Hochsommers, hier auf der weißen Galerie des Café Tomaselli in Salzburg, möglichst nah der Brüstung, unter einem der Sonnenschirmchen vielleicht, wenn die Augustsonne drückend wird – darüber geht uns eigentlich nichts, es macht uns wohlgelaunter, weltversöhnlich, gar episodisch glücklich. Hierher zurück sehnen wir uns, wenn's novemberneblig wird im kargen Norddeutschland, und kehren, da wir noch leben, zurück hierher im nächsten Sommer, erwarten schon, vom Residenzplatz heranschlendernd, nicht ohne sentimentales vorfreudiges Wiedersehensbangen, hinter der letzten Ecke dieses helle Gast-Haus, das da in Gemütlichkeit und Anmut wieder ein ganzes Jahr lang ausgeharrt hat, wir meinen dann: unser geharrt.

Kaum einmal begnügen wir uns damit, an einem der ebenerdigen Tische unter der Galerie Platz zu nehmen, wo man meist nur Zeitung liest oder hermetisch vertiefte Gespräche führt und mit dem Straßenbild stumpf und achtlos vertraut ist bis zur Blindheit. Lieber klettern wir gleich nach oben: über eine Wendeltreppe von übermütiger und geradezu nautischer Enge, daß man einem etwa Entgegenkommenden turnerisch geschickt auszuweichen hat oder ihm, im eiligeren Fall, fast unvermeidlich in die Arme lauft.

Oft genug treffen wir dann freilich dieses obere Sonnendeck schon so bunt und menschenerfüllt an, dass wir uns trauernd dennoch in einem der inneren Räume etablieren müssen, aber trauernd wieder nicht allzu schwarz, weil man ja auch hier, sitzend am liebsten an einem der schmalen Nischentischchen, in dieser honigbraun getäfelten altväterlichen Kulisse, zwischen anonym historischen Bildnissen und den meist lebhaft umworbenen Zeitungsständern, Auge und Ohr nicht darben lassen muß, nur daß es sich hier zu beschränken hat oder auch konzentrieren darf aufs Menschlich-Physiognomische, woran man denn, nebenher und wie zufällig zuschauend, seinen diskreten Anteil nimmt: am Auftreten etwa der hier zur Festspielzeit beinah allgegenwärtigen musischen Prominenz, die immer wieder einmal, in Fleisch und Bein, plötzlich das Bild belebt.

Mit unverminderter Wohllaune also finden wir uns in solche keineswegs blutarme Innenschau, aber sind doch noch vergnügter, wenn die vorgefundene Außenbesatzung diese und jene Lücke aufweist, gar am blumenbunten Geländer, wo man seine nördlich ungeschlachte Körperlichkeit notgedrungen ins Benehmen zu setzen hat mit dem winzigen Rund dieser weißen Tischchen, von denen den entbehrten Topfenstrudel, die unersetzliche Cremeschnitte zum Munde zu führen nur mit einiger tänzerischer Grazie zu leisten ist. Wir empfinden aber durchaus keine Mühsal dabei, obwohl wir manchmal nur kauern können am labilen Rand dieser weißmetallenen Stühlchen oder für unsere Bissen weite, gefährdete Luftwege in Kauf zu nehmen haben. Willig schicken wir uns in alle Unbequemlichkeit, weil nun auf Erden nie alles beieinander ist und weil man billigerweise nicht verlangen kann, den schönsten Platz auf der Welt auch noch im Klubsessel zu behaupten.

Auch die hier geforderten Preise von Kaffee und Kuchen haben uns nur am Anfang erzittern lassen; inzwischen sagen wir uns (nicht besonders sozial, aber das Soziale schlagen wir für diesmal, fahrlässig, übermütig, in den Wind), daß bei einer populäreren Preisgestaltung die Galerie vollends nicht mehr zu betreten wäre, weil sich dann einfach jedermann an dieser Brüstung bei seinem Bier würde räkeln wollen; und Schönheit, die habe halt ihren Preis.

Man sieht von hier, über einer kaum gezierten Wandmasse, die noch zur Residenz gehört, die barocke Verschwendung der beiden Domtürme: steinern helles Geländer in den Lüften, mit dem zierlicher gewordenen oktogonalen Gemäuer drüber und der gerippten Patina der Kuppelchen, die noch einmal ragende Laterne tragen mit Goldkreuzen darauf. Das alles kann man aber auch nur nehmen als Vordergrund und Folie und seinen Blick weiden auf der entfernteren Höhe des Mönchsberges, wo er mauer- und turmbewehrt ist.

Meistens aber ist unseren Sommerblicken das alles zusammen, dieses glückliche Ensemble von Türmen, Kuppeln, Zwiebeln, Nadeln und nochmals Kuppeln, gar kein scharf und identifizierend erfaßtes Ziel mehr, sondern eine hohe und festlich urbane Kulisse, taugt, zusammen mit dem intimen Rechteckmaß des alten Platzes zu unseren Füßen, dem heiteren Fenstergeschnörkel des gegenüberliegenden Hofapothekenhauses, dem kunstvoll schwingenden Spiel des schmiedeeisernen Gitters auf dem Florianibrunnen, scheint uns vorzüglich zu taugen als Erscheinungs- und Auftrittsort, als Begegnungsstätte aller der Menschen hier, die doch unser erstes Interesse sind.

Natürlich rede ich hier nicht von diesem täglichen Auftrieb, nämlich allen den mißlichen Umzügen, herrührend von einem gewissen oberflächlichen Autobustourismus, mit denen sich Salzburgs enge Altstadt im Sommer jeweils abzuplagen hat und die man hierzulande, wie ich mir denke, mit einem Gemisch ignorierender Verachtung und ökonomisch grundierter Toleranz ansieht. Dies anscheinend bloß glotzende, überwiegend miesmaulige und bauchig bequeme Volk folgt dann da unten seinem alert voranschreitenden Führer in der sämig eingedickten Bewegung der unschlüssigen Masse.

Davon, wie gesagt, rede ich lieber nicht; eher suchen wir unsere eindruckswilligen Blicke zu hüten vor denen, wie übrigens auch vor den gelangweilt-langweiligen Mienen so mancher nichts als Reichen dieser Welt, die, gegen den Vorstellungsanfang hin, in glitzernd dekolletiertem Gewand, in festabendlichem Schwarz da und dort unterwegs sind, ihre verdorrte Seele, recht folgenlos wohl, auszusetzen der jenseitigen Einsamkeit Ariadnes, dem versponnenen Flötengetön jenes Märchenprinzen.

Dergleichen mag mißlich oder gar einmal abstoßend bemerkbar sein auf Salzburgs Straßen, und es mag kulturrevolutionär gestimmte Feuilletonredakteure zu scharfen und geißelnden Auslassungen nötigen über eine bourgeois veräußerlichte Üppigkeitskunst. Uns kümmert nicht die Ödnis solcher Visagen noch die solcher Tiraden; wir sind glücklich hier, glücklicher wahrscheinlich als irgendwo auf der Welt. In hoher Stimmung sind wir bereit, auf diesen Straßen und Plätzen, in diesen Gassen und gemütvollen Innenhöfen, auf dieser ganzen engen und malerisch verwinkelten Bühne von Salzburgs Altstadt unsere herzschlagerhöhend festliche Begegnung zu halten mit den Gesichtern der Welt.

Das ist Festspielzeit in Salzburg, festliche Sommerzeit in dieser schwellenden und prangenden Barock-Stadt, südliches Sonnen- und Lebensfest für uns zwei, die wieder einmal darbend herangereist sind aus ihrer meernah unwirtlichen Ebene, sich in Liebe diesen Kuppeln genähert haben und jetzt, vor Winter und Tod, noch einmal über diese Straßen und Plätze schlendern dürfen, die Platz genommen haben für eine Nachmittagsstunde auf der lustigen, weißen, wimmelnden Galerie des Café Tomaselli, um von superiorem Logenplatz herab dieses unterhaltsamste Welttheater zu genießen.

Wir haben unsererseits festliche Kleidung angelegt heute, sind Beobachter nicht nur, auch wohl Beobachtete, gehören ja einmal wieder zum Kreis der Eingeweihten, werden denn am Abend zwei Flammen sein oder doch Flämmchen dieser im Dunkel glühenden „Falstaff“-Gemeinde, werden einmal mehr unter den Bann gebeugt werden des deliziösen Ritters von Karajan, haben den ja schon im Ohr, den intrigant-maliziösen „Reverenza“-Auftritt der Quickly vor dem aristokratischen, humoristisch ramponierten Saufaus, haben vielleicht schon jetzt in unseren Nachmittagsblicken ein wenig von jener blaugrauen Tutto-e-burla-Heiterkeit des absehbaren Finales, haben uns nur zum Veratmen eben noch für ein Weilchen niedergesetzt beim Tomaselli, zum kleinen Nachmittagsgenuß vor dem großen des Abends, sind nur gerade noch gekommen, das erwartungsvolle Hirn mit einem Kännchen „Braunen“ zu beleben, genießen nun dazu, lässig und behutsam, diesen Strudel, mustern die lockend bekannte Szene schon ein wenig mit den hellblassen Augen des greisen Meisters, mit seiner schon astralen Serenität. Sommer ist es noch einmal in der allerschönsten Stadt; wir werden heut Abend das sensibelste, schmiegsamste Orchester hören, und schmelzendes Wachs wird das sein in den gestaltenden Händen des hingenommenen Maestro; wir werden den Fenton mit seiner Nannetta hören in ihrer adoleszenten Zweisamkeit, zwar räumlich benachbart all diesen Razzia- und Waschkorbturbulenzen, aber sternenweit davon. Nur einstweilen sitzen wir noch in der Sonne des Salzburger Altmarktes.

Und siehst du, jetzt eben werden Plätze am Geländer geräumt! Ein Platzwechsel ist, auch unterm Bedienungsgesichtspunkt, unschwierig hier draußen, er wird vom Personal mit kundiger Nachsicht aufgenommen. Einzuholen wäre nur noch die Genehmigung jener älteren Dame, die jetzt allein an dem Tischchen da drüben sitzt, frischfarbig, mit stillem dunklen Blick, in einem jägerartigen olivfarbenen Kostüm – eingesessene Salzburgerin offenbar, wenn ich mich nicht ganz täusche, und als solche mir allemal eine willkommenere, auch, sozusagen, seriösere Gesprächspartnerin als so mancher unbeschwert daherplappernde Tourist.

Zwei- oder dreimal muß ich die Versunkene erst anrufen, ehe ich ihr unser Anliegen sagen kann. Freundlich und einladend beleben sich jetzt ihre ein wenig schwer blickenden braunen Augen; sie weist ermunternd auf die beiden leergewordenen Stühlchen, und wir ziehen also samt unseren halb geleerten Tellern um an ihren begünstigten Tisch, werden, wie uns vorkommt, mit wärmendem Wohlwollen gemustert, haben selbst nicht Scheu und begegnen keiner, ein eigentlich ja schon eröffnetes Gespräch einfach fortzusetzen.

Auf ihre Frage hin, die nahe genug liegt angesichts unsrer festlichen Kleidung, nennen wir ihr unsere heutige Abendfreude bei Namen, müssen sie übrigens daraufhin keineswegs etwa in ignoranter Verlegenheit sehen. Oh ja, den „Falstaff“ habe auch sie in Salzburg schon erlebt, freilich nicht – dies mit kleinem, humoristisch resignativem Lächeln – in einer so erlesenen Besetzung, wie wir sie heute ohne Zweifel erwarten dürften, vielmehr bloß mit dem angestammten, ganzjährig verfügbaren Personal des Landestheaters. Dieses Haus, dieser Saal, fügt sie nach einer kleinen nachdenklich verlächelten Weile hinzu, sei aber wieder in seiner fürstlichen, dabei intimen Festlichkeit so schön, biete den schweifenden Blicken (mindestens ihren, Augenmensch der sie einmal sei) ein so ausdauerndes, geradezu abendlanges Vergnügen und Behagen, daß es zuletzt wohl auch die Ohren – und andeutend zupft sie dabei an einem – unwillkürlich zu einer gewissen, vielleicht dann ja allzu lässigen Nachsicht überrede und denen sozusagen einfach nicht gestatte, sich in einzelgängerischem und querulantischem Protest gegen all die ansehbare Schönheit zur Wehr zu setzen, wie es ihr tatsachlich wohl schon das eine und andere Mal ergangen sei. Ob wir den Platz etwa schon zu Gesicht bekommen hätten?

Wir lächeln willig und frei in ein Gesicht und in Augen hinein, die sich so humorvoll und anmutig bekennen: Da äußert sich, unmittelbar vor der glänzenden Front unserer festlichen Abendkleidung, dieses mürb seniore Gesicht in Gelassenheit darüber, wie es sich eine Darstellung von vielleicht minderem Rang ohne weiteres zumuten und unbeschadet gefallen lasse, rückt übrigens damit in aller Stille und ganz unwissentlich in meinem eigenen Kopfe zurecht die von kritischer Sensibilität mitunter gestörte und verdrehte Rangfolge von Substanz und Reproduktion eines Kunstwerks. Ich finde es also, ganz unbeschadet meines vibrierenden und hochgespannten Wartens auf den heutigen vermutlich virtuosen Abend, gar nicht schwer, ihr beizustimmen, vorausgesetzt einmal (und wieder lächle ich ihr zu, so ein bisschen verschmitzt anfragend vielleicht oder gar schon in einer kleinen heiteren Konspiration) vorausgesetzt, daß barocke Lüsterschönheit nicht geradezu aufkommen müsse für den Mangel an jeder Qualität dessen, weswegen man zuletzt ja doch gekommen sei. Einen solchen Mangel aber, füge ich verbindlich und naiv begeistert hinzu, könne ich mir an schlechterdings keiner Kunststätte dieser Stadt recht vorstellen: „am allerwenigsten heut Nachmittag!“ Zu meinen zutulichen Worten nickt sie freundlich, aber ein wenig zerstreut und einsam, so daß ich ihr Einverständnis kaum etwa auf den Kratzfuß meines Nachsatzes beziehen darf.

Unvermittelt kommt sie jetzt auf ihren Zahnarzt zu sprechen, dessen Ordinationsraume sie eben erst vor einer knappen Stunde verlassen habe , müsse übrigens einen hartnäckig eiternden Backenzahn behandeln lassen. „Ja, Frau Doktor“, habe der mit erhobenem Zeigefinger gesagt, als er den Behandlungsstuhl in die Senkrechte zurückkehren ließ, „nehmen's von denen Dragees, wenn's arg wird“ und ihr zum Abschied dieses Muster mitgegeben. Es scheine arg zu werden mittlerweile – und tastet dabei, ein wenig verzerrten Gesichts, am linken Unterkiefer herum –, aber da sie ja im Täschchen den Beschwörungszauber verwahre, sei ihr dabei noch nicht bange, und sie lasse den fürs erste sogar noch unversucht.

Nach allem Erzählten sei sie doch wohl Salzburgerin, vermuten wir nun ausdrücklich das längst Wahrscheinliche. – Doch, ja, man sei schon generationenlang hier ansässig, mindestens im Salzburger Raum, obwohl in der tieferen Vergangenheit ihrer Familie erwiesenermaßen schon auch noch eine gewisse Ferne, ein ungarisch balkanhaftes Element seine Rolle gespielt habe, schließlich sei man ja in jenen verschollenen braunen Jahren eines hysterischen Rassen- und Ahneninteresses wie fast jedermann genötigt gewesen, klärende Vorstöße in diese Vergangenheit hinab zu unternehmen. Übrigens möge sogar auch ein Schuss Zigeunerblut in diesem verräucherten alten Kessel mitgebrodelt haben, lässt sie uns mit kleinem Scherz wissen, hebt anheimstellend dabei ein wenig ihre Kuchengabel in die Luft. Jedenfalls habe jener so unerlässliche „Pass“ damals ihr Jus-Studium so wenig behindern müssen wie ihre berufliche Tätigkeit danach. Noch während der ersten Jahre ihrer Ehe sei sie der nachgegangen, habe sie erst aufgegeben, als Nachwuchs sich ankündigte. Doch, ja, sie habe eine Tochter gehabt und einen Sohn. Sie sagt nichts weiter, ist, dunkel abbrechend, fürs erste verstummt, putzt jetzt nur mit ihrer Linken vom Tischtuch selbst die allerkleinsten Kuchenkrümel . Wir holen beide unsere Blicke von den Domkuppelchen herunter, vom Brunnengeschnörkel herauf, sehen neu, auch bang vielleicht auf die noch lebensprächtige Frau, die hat vorhin so gemütvoll nach unserem Woher gefragt, so beinahe traulich uns zugelächelt, und ihr Scherzen, das hat ja doch soeben noch standfest geklungen, behaglich sozusagen, bodenständig auch auf eine anmutende Art. Sollen wir uns hier wirklich noch ernsthaft einlassen auf die irgendwie sonderbar klingende, die unverkennbar eingetrübte, halb ja wohl schon bekennende Vergangenheits- und Endgültigkeitsform dieses Satzes?

Soll ich die fremde Frau mit den frischen, blühenden Wangen, in ihrem drallen und wackeren Kostüm da vor mir fragen; soll ich diese immer noch gesunkenen braunen Augen jetzt heben in meine und sie mit dringendem und vollem, ernstem, Wahrheit erlaubendem Blick tatsachlich fragen, jetzt, da es schon Fünf geschlagen hat von den herrlichen Kuppeln, und schon in einer knappen Stunde wird, schwarz, schmal und silberschopfig, diese Dirigentenlegende vor uns hintreten, umbrandet von Erinnerungs- und Erwartungsjubel, wird heben den verzaubernden Stab. Eigentlich sollten wir schon nach dem Kellner ausgeblickt haben, um unsere Rechnung zu begleichen! Bereits hantiert ja mein Hirn mit Versatzstücken, die dazu taugen mögen, ein kaum begonnenes Gespräch schon wieder planvoll zu verdünnen. –

„Ihre Kinder leben wirklich beide nicht mehr?“, höre ich mich fragen und habe ihren Blick vom Tischtuch gehoben in meinen: ihre eigentlich schönen braunen Augen sehen furchtbar beschwert jetzt, kämpfen anscheinend mit einer unbekannten Unglückslast, suchen aber verdunkelnden Gram wieder irgendwie als Heiterkeit auszugeben, die überwunden hat und etwa eine neue Lebensstabilität gewonnen. „Ja, sie ist tot, die Tochter. Sie hat sich damals bei der Scheidung für ihn entschieden, für meinen Mann, hat die Mutter nimmer kennen woll'n auf der Straßen. Sie is scho lang tot. Damals hab i mir a frisches Grab g'sucht am Friedhof, hab Blumen drauf g'stellt, hab's begossen und hab mir denkt: das is dei Tochter da drunten. Nach drei Jahr bin i drüberhin g'wesen.“

Ja, ja, sie begegne ihr gelegentlich schon noch auf der Straße, aber das plötzliche Treffen der zwei Blicke, es bedeute ihr nur noch ein kleines, kurzes, auch folgenloses Erschrecken. Ohne besondere Mühe könne sie weitergehen dann, könne Auslagen betrachten, die Zeitung mit kleinem Alltagsgeplauder kaufen bei ihrer Trafikantin, ihren Nachmittagskaffee genießen – „sehen S'?“ – überm Alten Markt. Den queren inzwischen immer mehr festlich Gewandete, schlendernd noch, uneilig, haben nichts im Sinn als diesen warmen schäfchenwolkigen Nachmittag, diese sprühende, funkelnde Greisenoper, deren episodischer Finstersinn zuverlässig von Wein erlöst wird und im mitternächtlichen Elfenwald vollends dahinschmilzt.

Die schweren dunkelbraunen Augen sehen mich jetzt ruhig an, versuchen's, in wärmender Zuneigung; ihr freundliches Wort will sich ja vielleicht erneut mit mir beschäftigen, nurmehr mit uns. Aber ich, in aufflammender Beschwörung umfasse ich diese mürben Rundungen ihres in hohen Herbstfarben stehenden Gesichts, lasse meinen Blick tiefer und schonungsloser ein auf die Zeichen von Vergänglichkeit darin, erkenne das feine Geäst versehrter Kapillaren auf ihren Wangen, eine gelblich ungute Verfärbung ihrer Augenbälle, muß die dennoch fragen danach, vernachlässigend den blöden Mummenschanz meines Anzugs, unseres so hübsch erheiternden Vorhabens.

„Können Sie ihr nicht die Hand geben, die Hand reichen, trotz allem, und sie einfach umarmen dort unten am Brunnen oder irgendwo in der Stadt, da Sie doch sterben müssen eines vielleicht baldigen Tags und auch die Tochter irgendwann sterben muß und das vielleicht allzu schwer sein wird, unnötig verfinstert und bitter, mit derart starrendem Krampf der Seele? Können Sie's nicht tun? Und schon bei der nächsten Begegnung, nicht erst irgendeiner übernächsten.“

Kannst du dir nicht endliche Erlösung gönnen, alte Frau, die hoffentlich tränenüberströmte Seligkeit, ja doch, die Seligkeit von Versöhnung? Sohnesjung erscheine ich mir bei meinen Worten und schwermütig eremitisch uralt; dürfte mir kein einziges Wort erlauben von allen denen, die ich da rede, die's da aus mir redet.

Erneut versäume ich den Kellner, der eben wieder zublickend unser Tischchen passiert hat. Kaum mehr einholbar drohen wir uns zu verspäten, werden vermutlich bis zur Pause nichts tun als missmutig und verbannt ein hallig leeres Foyer durchqueren, dutzendfach. Zum trübseligen Torso zu verkommen droht unser Kunstwerk dieses Abends, für den wir doch schon vorsorglich tief in diesen Sommertag hinein geschlafen haben, um seinem Gefunkel mit funkelnder Aufmerksamkeit zu begegnen unsererseits. Haben uns auch bildungsbürgerlich Verdis spate Briefe zum Thema vor Augen gehalten, das stockend schwere Gelingen eines letzten Werks begleitet mit unserer Sorge, der längst nicht mehr begründeten.

Meine Hand, die auf den Tisch vorgetreckte, liegengebliebene Geste von Beschwörung, hat sie da ergriffen und eingefangen, die alte Frau; bedeckt und umschlossen hat sie die mit ihren beiden Händen, hat meine schmalhagere auf einmal begraben unter weicher Wärme. Erschrocken und gelähmt bleibt die nun weiter da liegen, konnte sich so stürmisch andrängender Wirkung doch nicht versehen, meldet also Warme, Beklemmung, Ersticken vom Tisch her, klammernde Inständigkeit.

„Das hat koan'n Sinn, wissen's. Nix wie lachen tät die über mich. Wertlos is die wie ihr Vatter, wertlos. Gsagt hat der zu denen nach der Scheidung: ‚Sollt's sehn, das halt d'Mutter eh net aus, die landet in der Klapsmühl'n, das dauert nimmer lang‘. Und zweimal hab i mer scho denkt, daß der noch recht b'halten könnt; zweimal hab i damals schon an Zusammenbruch g'habt und bin net weit weg gwesen von aufg'schnittene Pulsadern. – Aber sehen's, i bin immer no da, i bin wieder z'ruck in mei'm Haus am Giselakai, i hob a no a Freude an meim Leben, an der Stadt. Da is no lang nix zum Erben, no lang net.“

Wechselnden Druck dieser Hände hab ich gespürt zu ihren Worten, fliegend, fahrig verstärkten, bei diesem letzten Krampf von Heiterkeit. Die ergreifen, ziehen an sich jetzt, wollen sich verschwören mit dem formbaren Material meiner fünf kühlen leblosen Finger, worin aber Widerstand aufzustehen beginnt. Den mag sie nicht wahrnehmen, hat da endlich eine Hand in ihrer, und keine unfreundliche doch wohl, zieht die an sich, sagt ja beinah nur zu der ihr letztes geheimnisvoll klärendes Wort, das die Nachmittagssonne löscht, den Sommer beendet. Winterfröstelnd kommt mir's entgegen: „Wissen's, mein Mann is a Tschech! Die san nix wert. Mei Mutter hat's scho damals g'wußt und hat mi g'warnt. Aber i bin halt verliebt g'wesen damals und hab g'lacht und's net glauben mögen. Meine Mutter hat's immer gewußt, und ich hab nicht gehört auf die Mutter und bin unglücklich geworden dafür, sehen Sie. – Verzeihen's mir, mein Herr.“ Blickt noch einen Augenblick schwer hinunter auf unsere Hände, noch tatenlos, hebt meine, mit Abschiedsdruck, ein wenig von der Tischplatte, überlässt sie neuer Unbeweglichkeit.

Ach, die sollte sich jetzt ihrer bemächtigen, sollte aufstehen jetzt und diese beiden Altfrauenhände, mild und trübselig gepolstert, sollte sie einfangen und mit beschwörendem Druck herüberziehen, an sich ziehen, sollte ins todnahe Geäder dieser Wangen, ins vergilbte Weiß der Augen hinein reden, zur gramvoll gebissenen Unterlippe, zu den arteriosklerotisch versickernden Blutströmen, zum krustig verjährten Leid, zu dessen stockig eingedicktem Bodensatz, dem Grimm.

Erzählen müsste ich diesem Gesicht unterm schwungvollen Jägerhut, beispielsweise, von unseren Freunden im rotgoldenen Prag – wir haben keine besseren –, von ihrem nicht besonders einfachen Leben, dem schwergängigen Hüftgelenk der Frau, ihren immer kürzeren Spaziergängen; erzählen noch von der an Prozess und Gefängnis nur knapp vorbeiführenden beruflichen Degradierung ihres Mannes, des politisch nicht hinreichend gefälligen; von seinen gelassen resignativen, philosophisch heiteren und aufheiternden Briefen ohne Absender. Aber vielleicht sollte ich überhaupt den Umweg meiden übers bloß berichtende Wort, weil das allzu geringe Beweiskraft hätte für so tief starrenden Grimm. Sollte es dann lieber einladen, sollte‘s locken, dieses Gesicht, demnächst ins Festspielhaus, wo sich in diesen Tagen ja noch einmal der von Karajan wird hören lassen: mit Dvořáks Achter, dem zugänglichsten, betretbarsten aller Himmel, Tschechenmusik, alte Frau, mit ihrer weltfernen keuschen Idylle des Mittelsatzes, nah siedelnd an Vogellaut und verschwiegenem Weiher, seinem selig intimen Bei-Gott-Sein, eingeschärft dem betörten Ohr, bis zum Schmerz, von den zählbar gewordenen Violinen; mit ihrem ganzen tänzerisch unschwierigen lebensfreudigen Glück. Wenn sie das hörte und einließe…

Muß stattdessen aber denken, in wortloser, handlähmender Schwermut, an Mendelssohns lichte, leichtfüßige Elfen, die auch nicht den braunen Uniformen die Steine haben schmeicheln können aus gehobener Faust, in jener Nacht damals, in der Glas zerbarst und manches. Haben dennoch, nach ein paar Jahren, Oberon wie Titania im Rauch aufgehen lassen der anonymen Krematorien.

Ein bißchen erzählt uns die Frau noch vom entfernten Sohn, der sei seit langem einer unguten Person verfallen, beinah um zwanzig Jahre älter, habe alles Warnen der Mutter leichtfertig und höhnisch in den Wind geschlagen, sei irgendwann brieflos verzogen mit der, habe ihr Haus nicht mehr betreten seit Jahr und Tag, der Verfluchte.

Wir haben dem Kellner gewinkt, haben gezahlt, uns verabschiedet. Als ich ihr in der Treppenwendel untergehe, habe ich noch ihren dunkelbraunen, dunklen, schweren verhangenen Blick auf meinem Gesicht, freundlich, wehmütig, gütig, gramvoll. Da ist keine Festgemeinde mehr auf der Straße. Eine letzte Klingelmahnung ergeht an uns noch vor Passieren des Portals. Mit verglimmender Saalbeleuchtung erreichen wir unsere Position. Beifall, gewaltiger, der glitzernden Tausend rauscht auf in der weiten Halle, als da vorn die weiße Flamme dieses Schopfs erahnbar wird. Ich sehe den erhobenen Stab, sein initiales Zucken. Da mag nun beginnen die Freude, die vereinbarte, gezahlte, lang herangewartete, terminierte, kostbar geschliffene Freude.

(1983)