Familienaufstellung im Hause Allemonde
Debussys „Pelléas et Mellisande“ bei den Opernfestspielen
München, 11. Juli 2024, Michael Bordt SJ

Es ist eine mutige und durchaus gewagte Entscheidung, die die Regisseurin Jetske Mijnssen getroffen hat: Die Oper „Pelléas et Mellisande“, in der die Natur eine zentrale Rolle spielt, als bedrückende Szenen im Haus einer großbürgerlichen Familie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, also zur Entstehungszeit von Claude Debussys Oper, spielen zu lassen. Es gibt, anders als eigentlich vorgesehen, keinen Wald, keine Grotte, keinen Brunnen, kein Meer. Die Oper spielt bei ihr auf einer breiten Fläche, beinahe einem Steg, parallel zum Bühnenrand mit dunklem, goldfarbenem Grätenfischmusterparkett. Die Szenen unterscheiden sich durch unterschiedliche Requisiten: Da gibt es Stühle, einen großen Tisch, ein Bett, einen Paravent. Die ausgesprochen edlen Kostüme sind in gedeckten, dunklen Farben gehalten (Bühne und Kostüme: Ben Baur). Der Hintergrund ist pechschwarz, die Bühne ist kunstvoll ausgeleuchtet (Bernd Purkrabek).

In dieser stilisierten Enge spielt sich das Familiendrama ab: Golaud, gesungen von Christian Gehaher, hat gegen den Rat seines Vaters nicht um die Hand der Prinzessin Ursula angehalten, sondern sich in die bildschöne, aber ihm wesensfremde und rätselhafte Mélisande verliebt, die er heiratet und ins Elternhaus führt. Dort lernt sie nicht nur den Großvater Arkel, den König von Allemonde, kennen (mit warmer, ausladender Stimme kraftvoll gesungen von Franz-Josef Selig), der zwar weise Sprüche von sich gibt, aber unfähig ist, das sich vor seinen Augen abzeichnende Drama aufzuhalten. Vor allem trifft sie auf Golauds Halbbruder Pelléas. In Mijnssens Interpretation ist er ein Künstler, ein Maler, und das soll offenbar zumindest ein wenig erklären, warum sich Mélisande von ihm so angezogen fühlt. Das Drama nimmt seinen Lauf: Golaud spürt, dass zwischen seinem Halbbruder und seiner Frau eine Liebe wächst, deren Wesen ihm fremd ist. Für ihn reduziert sich die Frage nach ihrer Beziehung darauf, wie körperlich sie miteinander umgegangen sind. Pelléas und Mélisande indes sind seelenverwandt und teilen damit etwas, das dem unbeherrschten, jähzornigen Machtmenschen bis zur Verzweiflung fremd ist. Es kommt, wie es kommen muss: In seiner Eifersucht erschlägt er seinen Bruder. Seine Frau stirbt ein paar Monate später, nachdem sie eine Tochter geboren hat, an gebrochenem Herzen.

Die Personenregie ist durchweg exzellent durchdacht. Jede kleine Geste, jeder Blick zeichnet die Personen und ihre Beziehungen zueinander. Manche Szenen erreichen dadurch eine Intensität wie bei Familienaufstellungen. Mélisande ist bei Mijnssen nicht, wie in anderen Inszenierungen der Oper, das zarte Hascherl. Sabine Devieilhe legt die Rolle durchaus kraftvoll an. In aller Rätselhaftigkeit ist Mélisande bei ihr eine entschiedene, starke Frau, selbst wenn sie in der letzten Szene der Oper ergreifend ihr Leben aushaucht. Die große Szene, in der Golaud seinen Sohn Yniold (Henrik Brandstetter mit klarem Knabensopran – welch eine Leistung!) zwingt, ihm Auskunft über Mélisande und Pelléas zu geben, ist von erschreckend brutaler, körperlicher Gewalt.

Unter der musikalischen Leitung von Hannu Lintu spielt das Bayerische Staatsorchester mit einem vollen und satten Klang, der beinahe ein wenig zu stark nach deutscher Romantik klingt. Seine Tempi sind, vor allem zu Beginn, sehr gemessen, und obwohl das Orchester außerordentlich tief gelegen ist, deckt es leider immer wieder die Sänger zu. Das gilt weniger für Christian Gerhaher, der mit seinen starken Gefühlsausbrüchen und seiner französischen Diktion dann doch manchmal etwas zu Deutsch wirkt. Aber es gilt für Ben Bliss, dessen heller, in der Höhe etwas enger Tenor es nicht immer über den Orchestergraben schafft. Und es gilt auch für Henrik Brandstetter – und gerade bei ihm hätte ich mir mehr Rücksicht gewünscht. Es gab einen herzlichen Applaus von einem doch auch erschöpften Publikum.