Anton Zeilinger, Nobelpreisträger für Physik, hielt in diesem Sommer die Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele. Wo es zumeist üblich ist, längst bekannte und allseits wiederholte Standpunkte und Phrasen auszubreiten (Bedeutung der Demokratie, Gefahr des Populismus, starkes Europa etc.), hatte Zeilinger den Mut, auf zwei Punkte einzugehen, die von einer dominierenden Kultur-Elite in vermeintlichem Konsens sonst kaum berührt werden. Er forderte dazu auf, wissenschaftliche und künstlerische Kooperationen mit Ländern, deren Standpunkte wir nicht teilten (Russland und China wurden genannt), nicht aufzugeben, sondern fortzusetzen. Und er hatte den Mut, die Dekonstruktion großer Kunstwerke problematisch zu finden, wobei er die Gefahr der Verflachung mit Stellen aus „Rheingold“ und „Parsifal“ illustrierte.
Desaströs: Mozarts „Figaro“
Dabei hätte ihm auch die diesjährige Eröffnungspremiere trefflich als Exempel dienen können. Denn Martin Kušejs Inszenierung von Mozarts „Le nozze di Figaro“ kann ohne weiteres als Inbegriff schlechten Regietheaters verstanden werden. Die Zutaten dafür sind bei jeder Inszenierung mehr oder minder identisch. Zunächst braucht der Schöpfer einer genialischen Neuinszenierung ein möglichst hässliches Bühnenbild. Diese Aufgabe hat für den „Figaro“ Raimund Orfeo Voigt mit abscheulichen Kästen in grauem Beton, Hinterhöfen mit Müllsäcken oder gefliesten Badezimmern im Neonlicht erfüllt. Ebenso hässlich (und auf gar keinen Fall historisch) müssen die Kostüme einer Neuproduktion beschaffen sein. Auch hier wurde in Salzburg von Alan Hranitelj ganze Arbeit geleistet: Graue Straßenanzüge, glitzernde Jacketts, Lederjacken zu kurzen Röcken erwecken den Eindruck, die Sänger hätten sich zu einer Bad-Taste-Party versammelt. Hat die Ausstattung diese Rahmenbedingungen erst einmal geschaffen, kommt die eigentliche Regie ins Spiel. Sie muss die Figuren einer Oper möglichst herzlos, kalt und gewalttätig erscheinen lassen – gerade dann, wenn die Musik etwas ganz anderes erzählt. Kušej siedelt Mozarts „Figaro“ darum konsequenterweise im Milieu einer Maffia-Bande an, und das bietet den Sängern die Möglichkeit, ausgiebig mit Pistolen hantieren zu dürfen und jede Menge nackte Haut und Gewalt zu zeigen. So zum Beispiel, wenn Figaro (Krzysztof Bączyk singt ihn mit flachem Bariton ohne Schmelz) zum Ende des ersten Aktes Cherubino (ausdrucksstark: Lea Desandre) aufs harte Soldatenleben einstimmt und Basilio (Manuel Günther als Priester in langer Soutane) ihn dabei derart gewaltsam gegen ein Fenster presst, dass bald Blut zu fließen beginnt. Blut ist ohnehin ein Lebenselixier zeitgeistiger Regie, wie der neue „Figaro“ eindrücklich zeigt: Mehrere Tote sind zu sehen – und ein paar blutig gehäutete Rehe werden obendrein im vierten Akt, der nun eine widrige Sumpflandschaft zeigt, durchs Bild getragen. Unverzichtbar für den großen Regie-Wurf ist zuletzt die Umdeutung mindestens einer zentralen Szene. Auch hier enttäuscht Kušej nicht. Wenn zu Beginn des dritten Aktes Susanna (mit klarem, schön gerundetem Sopran: Sabine Devieilhe) sich zum Schein auf ein Rendezvous mit dem Grafen einlässt, suggeriert unser Meister-Regisseur durch Weglassung ihm nicht genehmer Rezitativ-Passagen und durch entsprechende Posen, dass Susanna und der Graf schon jetzt miteinander schlafen – was natürlich die folgende Arie „Hai gia finta la causa“ nicht eben plausibler macht. Andrè Schuen, dessen Stimme an diesem Abend lange belegt und unfrei klingt, wird dabei von einer nackten Frau angekleidet, der er zum Dank einen Geldschein zusteckt.
Es ist müßig, weitere Details zu benennen, um diese vollkommen missratene Inszenierung zu kennzeichnen. Schlimm dabei ist vor allem: Gegen diesen monströsen Unsinn ist selbst Mozarts Musik machtlos. Und das, obwohl Raphaël Pichon am Pult der Wiener Philharmoniker immer wieder mit aparten Details aufhorchen lässt, wobei der Orchesterklang insgesamt recht kompakt bleibt, ohne darum an Geschmeidigkeit einzubüßen. Pichon und die Philharmoniker – das ist wohl keine ganz große Liebe, aber die Musiker leisten doch mehr als bloß öden Dienst nach öder Vorschrift.
Beglückend: Brahms’ „Deutsches Requiem“
Das ist auch bewundernswert, weil das Orchester in diesen Salzburger Tagen enorm gefordert ist, sitzt es doch nicht nur bei „Figaro“ im Graben, sondern spielt zugleich das erste von insgesamt fünf Konzertprogrammen in diesem Sommer: Johannes Brahms’ „Ein deutsches Requiem“. Und hier sind die Musiker unter der Leitung Christian Thielemanns nun wirklich in ihrem Element. Ganz verhalten, sehr dunkel gestaltet er den Beginn, und wenn der formidable Chor der Wiener Staatsoper davon spricht, dass alle, die da Leid tragen, getröstet werden sollen, so ist das nicht nur eine leere Behauptung, sondern schon ihre gültige Erfüllung, so warm und innig, so unwidersprechlich wie sie hier zum Klingen gebracht wird. Auch später formt der Chor immer wieder sehr plastisch den Text: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ Thielemann gestaltet in diesem Requiem große, spannungsvolle Steigerungen als organische Entwicklungen und setzt starke Akzente, wenn zum Beispiel der Hinfälligkeit des menschlichen Daseins mit donnernder Gewissheit die ewige Gültigkeit des göttlichen Wortes entgegengestellt wird. Die beiden Gesangspartien sind mit Michael Volle und Elsa Dreisig hervorragend besetzt. Die solistisch hervorgehobenen Passagen im Orchestersatz werden so präzise wie klangschön gestaltet: süße Geigenkantilenen im vierte, erlesene Holzbläser im fünften, fein austariert Cello und Flöte im sechsten Satz. Die Wiener Philharmoniker zeigen sich hier von ihrer schönsten Seite und lassen dieses Requiem unter Thielemanns umsichtiger Leitung zum klingenden Ereignis werden.
Spannend: Verdis „Macbeth“
Nicht ganz so feinnervig, aber mit großem, manchmal gefährlich starkem Ton, vorwärtsdrängend, dramatisch, gleichsam „molto agitato“ ist das Orchester dann in Verdis „Macbeth“ unter der Leitung von Philippe Jordan zu erleben, der das Dirigat verhältnismäßig kurzfristig für den erkrankten Franz Welser-Möst übernommen hat. Hier wurde ganz offensichtlich mit Lust und Genauigkeit geprobt, und so überzeugt das Ergebnis, von kleinen Koordinationsproblemen zwischen Chor und Orchester abgesehen, rundweg. Irisierend zarte, filigrane Streicher-Klänge zaubert Jordan zum berühmten Chor „patria oppressa“, der das Schicksal der schottischen Flüchtlinge beklagt. Hier gelingt auch dem Regisseur Krzysztof Warlikowski ein starkes Bild: Anstatt die Szene plump zu aktualisieren, was ja leider sehr leicht und darum naheliegend wäre, macht ein Ausschnitt aus Pasolinis „In Vangelo secondo Matteo“ die Dimension der Verbrechen sichtbar, deren Macbeth schuldig ist. Die Flucht der heiligen Familie erscheint hier gleichsam als Ur-Szene, der viel zu viele ähnliche Schicksale folgen.
Die Arbeit mit Videos gehört bei Warlikowski immer dazu – und so sehr die genannte Szene überzeugt, so fragwürdig ist der dauernde Einsatz dieses Mittels. Es ist kaum erhellend, wenn Gesichter oder Gesten der Sänger ständig im Hintergrund als Projektion sichtbar sind. Den Königsmord zeigen weder Shakespeare noch Verdi auf offener Bühne – ist die Andeutung hier doch viel packender als die nackte Tat. Doch Warlikowski zerrt auch dies auf die Leinwand. Eine Reduktion der Mittel und eine Konzentration auf die wenigen zentralen Figuren hätte der Inszenierung geholfen, die mitunter Gefahr läuft, sich im Aktionismus zu verlieren, mit dem der Regisseur den riesenhaften Bühnenraum von Malgorzata Szczęśniak füllt.
Als Blinde verkünden in dieser schwer fassbaren Umgebung (halb Turnhalle mit Bodenmarkierungen für Ballspiele, halb Wartesaal mit einer langen Holzbank, die gelegentlich in die Mitte fährt) die Hexen Macbeth eine große Zukunft. Doch ohne Kinder bleibt die errungene Position ständig gefährdet. Auf diesen Aspekt legt die Regie zurecht großen Wert und arbeitet mit einer Fülle von Anspielungen und kindlichen Statisten. Vladislav Sulimsky singt die Titelpartie mit perfekt gerundetem Bariton, der kraftvoll und angenehm timbriert ist. Aber er wirkt im grauen Anzug doch ein wenig zu sehr wie ein Bankangestellter. Ihm fehlt für diese Partie die Abgründigkeit, das Getriebene. Das gilt zum Teil auch für Asmik Grigorian als Lady Macbeth. Sie beherrscht die Partie stimmlich großartig, nur hat Verdi sich hier ja vor allem eine Sängerin gewünscht, die nicht nur schön, sondern ausdrucksstark und charaktervoll zu gestalten vermag. Das glückt Grigorian im berühmten Trinklied eindrucksvoll, weil die Lebensfreude, von der doch die Rede ist, hysterisch durchsetzt erscheint. Im ersten Auftritt „Vieni t’affretta“ wäre hingegen eine von glühenderem Ehrgeiz getragene Darstellung denkbar. Aber das sind kleine Einwände angesichts einer insgesamt überragenden Leistung. Ergänzt wir das Ensemble von Tareq Nazmi als dunkler, kraftvoller Banco und von dem hervorragenden Jonathan Tetelman als Macduff. Eine starke Aufführung, die vom Premierenpublikum anhaltend bejubelt wird. Und so überwiegen zu Beginn dieser Festspiele doch die guten Eindrücke. Manche werden lange haften bleiben.