Strauss´ „Frau ohne Schatten“ an der Bayerischen Staatsoper
Strauss´ „Frau ohne Schatten“ an der Bayerischen Staatsoper
München, 28. Juli 2022, Raphael Haghuber

Dreimal ertönt zu Beginn das mächtige Keikobad-Motiv, das Motiv der Vaterfigur. Es wirft uns direkt in die Handlung der vierten Oper, die Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal gemeinsam verantwortet haben, und diese ist eines der faszinierendsten Musikdramen überhaupt. Inspiriert von Mozarts Zauberflöte, aber auch durchtränkt von den Denkschemata der Kunst und Kultur des Fin de siècle, Psychoanalyse, Pathologisierung, Hysterie und Traumpoetik (um nur einige zu nennen), zugleich Summe der Vertonungskunst wie auch Vorausblick auf einen neuen Kompositionsstil von Strauss − das alles wirft die Frage auf, wie man einem derartigen Mount Everest szenisch begegnet, ganz abgesehen von den musikalischen Hürden, die zu nehmen sind.

Bereits 2013 hat Krzysztof Warlikowskis Inszenierung an der Bayerischen Staatsoper Premiere gefeiert. Nahezu zehn Jahre später stand sie nun im Rahmen der Opernfestspiele wieder auf dem Programm, und man darf von einer triumphalen Rückkehr sprechen. Warlikowskis anspielungsschwangere und dennoch von einer gewissen Reduktion lebende Lesart ist hervorragend gealtert, wenn überhaupt. Die Idee, den Weg der Kaiserin als sukzessive Aufarbeitung eines Traumas zu sehen, erweist sich als Coup, weil sämtliche Handlungsräume so auch zu Erinnerungs- bzw. Denkräumen werden können. Realität (falls wir in einem Märchen von einer solchen sprechen wollen) und Traum, Handeln und Denken, all das fließt ineinander und ist schicksalsträchtig miteinander verknüpft. Der Kaiserin wird im Verlauf ihrer „Therapie“ mehr und mehr bewusst, welche Konflikte sie auflösen muss, doch dazu bedarf es des Spiegelpaars aus Färber und Färberin als Katalysator.

Das Bühnenbild und die Kostüme, für die Malgorzata Szczesniak verantwortlich zeichnete, tragen dieses Regiekonzept perfekt: Grundsätzlich werden nur zwei Bühnenräume bespielt. Ein in dunkelbrauner Holzoptik gehaltenes Zimmer, in dem links zwei Couchen platziert sind, die an Behandlungszimmer von Therapeuten denken lassen. Rechts steht das Doppelbett des Färberpaars, dahinter verweisen mehrere in die Wand gesetzte Waschmaschinen auf den Broterwerb Baraks. In der Mitte findet sich ein runder Tisch mit mehreren Stühlen. Immer wieder öffnet sich die gewaltige Rückwand dieses Raums wie eine große Flügeltür und gibt den Blick auf den Raum dahinter frei: eine von weißen Fließen dominierte Halle, im Gegensatz zum Vorraum eher kühl und klinisch wirkend. Dieses Bühnenbild erfüllt in Verbindung mit der ausgeklügelten Lichtregie eine narrative Funktion, trägt dem Grundgedanken der Verwandlung Rechnung, und ermöglicht es so den Akteurinnen und Akteuren auf der Bühne, ihr Spiel zu reduzieren; die Räume (bzw. deren Metamorphose) und die traumwandlerische Bewegung der Figuren darin sind der Schlüssel zu Warlikowskis Produktion, wie auch eine maßgebliche Inspiration des Regisseurs, der Film L'année dernière à Marienbad von Alain Resnais, nahelegt. Dafür dass dies beinahe zehn Jahre nach dem Premierentermin immer noch so schlüssig funktionierte, sind der Spielleitung und dem gesamten Team hinter der Bühne großer Respekt zu zollen.

Strauss verpflichtet, besonders in München, und so wollte man sich hinsichtlich der musikalischen Ausführung natürlich nicht lumpen lassen. Jedoch, diverse Umbesetzungen, geringe Probenzeiten (in den prall gefüllten Festspielen) sowie die Tatsache, dass es sich um eine länger nicht mehr gespielte Repertoireproduktion handelt, sorgten stellenweise noch für Abstimmungsschwierigkeiten. Für den ursprünglich angesetzten Valery Gergiev, seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine jedoch persona non grata in weiten Teilen der Kulturszene, sprang der erfahrene Operndirigent Sebastian Weigle ein. Das Schwelgen in einem üppigen Breitwandsound war seine Sache nicht, vielmehr ging es ihm um ein straffes, kaleidoskopisches Auffächern des Orchesterklangs mit durchaus analytischem Anspruch. Das tat der Partitur sehr gut, weil es den überbordenden Ideenreichtum des Komponisten und die erzählerische Funktion der in variierter Form wiederkehrenden Motive unterstrich; auch der Klangzauber und die scharfe Attacke hatten ihren Platz unter Weigles kompetenten Händen, aber niemals auf Kosten der Klarheit. Im Ersten Akt hatte man das Gefühl, alle Beteiligten müssten erst noch zusammenfinden, der zweite zog das Publikum dann bereits unweigerlich in seinen Bann: Weigle führte das hervorragend disponierte Bayerische Staatsorchester und alle Soli wie in einem spannenden Krimi stringent zum Höhepunkt, der offenen Konfrontation zwischen Färberin und Färber sowie dem folgenden Eingreifen der „Übermächte“. Ein besonderes Lob gilt den Instrumentalsolisten des Orchesters, allen voran dem Konzertmeister David Schultheiß und dem Cellisten Emanuel Graf, für die intensive Gestaltung ihrer exponierten Passagen. Manchmal hatte man den Eindruck, das Orchester spiele insgesamt noch zu laut und überdecke die Vokalsolisten, aber das war vielleicht lediglich der „Trunkenheit der ersten Stunde“ geschuldet und dürfte sich bis zur Abschlussvorstellung am 31. Juli auf das richtige Maß einpendeln.

Was die Stimmen anbelangt, waren erfolgversprechende Namen aufgeboten. Eric Cutler sang den Kaiser mit strahlenden Höhen und soliden Kraftreserven, konnte sich aber nicht immer gegen das Orchester durchsetzen. Da diese Rolle kaum mit anderen Figuren direkt interagiert, ist jeder Interpret hier stark auf sich selbst zurückgeworfen, was Segen oder Fluch sein kann. Cutler hatte offenbar teilweise Probleme mit dem Regiekonzept und konnte sich nicht so recht darauf einlassen. Teilweise verfiel er in (tenorale) Klischeegesten, woran interessanterweise auch seine Perücke einen Anteil hatte: Er strich sich wiederholt eine störende Haarlocke hinter sein Ohr, was etwas eitel wirkte. Das soll nicht die gesangliche Leistung schmälern, aber der Kaiser muss in den wenigen Szenen, in denen er auftritt, einen interessanteren Eindruck hinterlassen.

Michaela Schuster hingegen, kurzfristig eingesprungen, verfügte über die nötigen darstellerischen Mittel, um der doppelgesichtigen Figur der Amme Profil zu verleihen. Ihr Wirken bestimmte weite Teile der ersten beiden Akte, und Schuster bewegte sich souverän wie eine Spielleiterin auf der Bühne. Hinsichtlich des Gesangs sind mittlerweile Abstriche bei der Mezzosopranistin zu machen: Die hohen Töne musste sie sich teilweise schreiend abringen, und es bestand stimmfarblich ein großer Kontrast zu den deklamatorischen Passagen. Diese gelangen ihr am besten, weil sie mit Worten umzugehen weiß, aber insgesamt blieb sie der Stimmakrobatik der Amme einiges schuldig. Bisweilen konnte die Sängerin auch die nötige Lautstärke nicht aufbieten, um sich gegen den Klang aus dem Orchestergraben zu behaupten. Ein schauspielerisch erfolgreiches, aber stimmlich leider nicht im gleichen Maße überzeugendes Rollenportrait.

Das Färberpaar hatte bezüglich stimmlicher Durchschlagskraft keine Probleme. Mit Nina Stemme und Michael Volle konnte die Bayerische Staatsoper eine nahezu perfekte Besetzung aufweisen; ein Glücksfall! Stemme, die große Wagner-Heroine unserer Tage, zeichnete das Bild einer in der Ehe unglücklichen Frau, die sich in ihrer Beziehung nicht wahrgenommen fühlt. Gerade in Warlikowskis Produktion wird der Färberin der Hang zur Hysterie ausgetrieben und der Mensch hinter der verhärteten Fassade wird sichtbar. Nina Stemme kostete die gesamte Ausdruckspalette ihres hochdramatischen Soprans aus und warf sich mit emotionalem Spiel in ihre Rolle. Altersbedingt mochten sich hier und da Anstrengungen bei der Vorbereitung hoher Töne bemerkbar machen, aber sobald sie diese erreicht hatte, standen sie felsenfest im Raum. Dass ihr nach der Vorstellung der Titel der Bayerischen Kammersängerin durch den Intendanten Serge Dorny verliehen wurde, schien dem in Ovationen ausbrechenden Publikum nach dieser Leistung nur eine logische Konsequenz zu sein.

In derselben Liga spielte der Färber, den Michael Volle stimmlich wie sprachlich facettenreich gestalten konnte. Für Warlikowskis Konzeption war die Autorität des Sängers ein Gewinn, da Barak nicht nur als gutherziger, von einer keifenden Ehefrau geschlagener Trottel dastand. Volles vokale Gewalt, zielgenau eingesetzt, ließ auch die negativen Seiten seiner Figur durchscheinen, einen Charakter, der beispielsweise seine Frau klar auf das Gebären von Kindern reduziert hat. Beide Sängerpersönlichkeiten, Volle und Stemme, vermochten die sonst oft ins Klischee abgleitenden Züge ihrer Figuren zu umschiffen und somit deren Komplexität und Menschlichkeit hervorzuheben.

Camilla Nylund schließlich darf heute als Idealbesetzung der somnambulen Kaiserin gelten. Jede Note saß, was an sich bei dieser schweren Partie schon eine gewaltige Leistung ist. Nylund befindet sich aktuell in der Form ihres Lebens, ging aber an diesem Abend über die reine souveräne Beherrschung des Notenmaterials hinaus und ließ die Kaiserin als Frau auf dem Pfad der Traumabewältigung eindrucksvoll Gestalt annehmen, nicht zuletzt durch ihr größtenteils stummes Spiel in den ersten beiden Akten. Der Dritte Aufzug wurde dann endgültig zum Triumph für die Sängerin: Die Kaiserin erkennt hier, dass sie sich ihrem Vater stellen muss, dass sie vor dieser finalen Konfrontation nicht fliehen kann. Camilla Nylund setzte ihren luxuriösen, technisch perfekt geführten Sopran hier auf intensive Weise zur Charakterisierung ein. Nebenbei bemerkt: Sogar die oft (auch bei vielen berühmten Rollenvertreterinnen der Vergangenheit) peinlich wirkenden gesprochenen Sätze am absoluten Höhepunkt der Oper gestaltet sie so mitreißend, dass die Katharsis danach ihre volle Wirkung entfalten kann. Eine beachtliche Leistung an diesem zurecht stark bejubelten Opernabend!