Als im Jahr 2017 ein umfassender Spiegel-Artikel über die Krise der Germanistik erschien, gab es großen Unmut innerhalb des Fachs. Vor allem ein Vergleich der gesellschaftlichen Bedeutung von Geschichtswissenschaft einerseits und Germanistik andererseits, der für letztere nicht eben positiv ausfiel, wurde abgelehnt. Ein Vergleich von Äpfeln und Birnen, so sagte man intern. Mag sein. Aber dass der öffentliche Stellenwert der Germanistik seit langem schwindet, ist leider dennoch eine zutreffende Beobachtung. Selbst viele Studierende der Germanistik können kaum noch namhafte Vertreter*innen ihres Fachs nennen, sofern diese nicht zufällig an ihrer eigenen Universität tätig sind.
Gerade vor dem Hintergrund dieses voranschreitenden Bedeutungsschwundes sind manche Forschungsfelder, die aktuell von der Literaturwissenschaft bearbeitet werden (alle Beispiele aus dem Winter 2019/2020), geradezu absurd oder – wie im ersten Beispiel – wahrlich haarsträubend:
Internationale Konferenz – Eine haarige Angelegenheit: Gegenständliche Poetiken des Haares (München)
[Aus dem Ankündigungstext:] [...]
Das Haar nämlich ist Ort narrativer Schnittgewalt, lyrischen Exzesses und dramatischer (Ver-/Zer-)Knotung und öffnet dabei den Blick auf das Groteske und Unheimliche des Haares, das eng mit dessen spezifischer Materialität verknüpft ist: ob fein, dick, lockig oder geschoren, Kopf- und Körperhaar bedrohen durch ihren Status als tote Substanz, die über den Leib hinausreicht, die Integrität von Körper und Text. Im toten Material konzentriert sich eine aufgestaute Lebendigkeit, die dem Haar eine Widerständigkeit einschreibt, es als Wiedergänger auftreten, vom Körper abfallen oder zum unheimlichen Aktanten werden lässt. Diese gespenstische Gegenständlichkeit und überschüssige Vitalität bilden schließlich auch die Schnittfläche, an der sich ökonomische, medienhistorische oder psychoanalytische Auseinandersetzungen mit dem Haar anlagern: [...]
Für die Tagung sind Beiträge zu folgenden Themenbereichen, aber nicht ausschließlich zu diesen, möglich:
- Gattungspoetische und formalästhetische Aspekte des Haares
- Medialität des Haares
- Interdisziplinäre/Komparatistische Perspektiven: Inszenierungen von Haar-Semantiken in Film, Kunst und Musik
- Kulturelle Praktiken des Haares: Schneiden, Waschen, Glätten, Rasieren, Wachsen etc.
- Praktiker des Haares: Perückenmacher, Friseure und Barbiere etc.
- Haarige (Aus-)Handlungsräume: Friseursalons, Badezimmer, Waxing-Studios etc.
- Verhältnis Kopf- und Körperhaar: Frisur und Vagina etc.
- Kommerzialisierung des Haares: Das Haar als Ware, Haare in globalen Warenströmen/-ketten und postkolonialen Kartographien/Geographien
- Haarspaltereien: Widerborstige Materialität von Haaren
- Gegenständlichkeit: Verhältnis von Material und Widerständigkeit, Rhetoriken des Widerstandes, das Haar als Widerstand
- Diskursiv-materielle Haarpraktiken und Formen der Subjektivierung
Fragwürdig ist nicht nur die Themenwahl, sondern auch die kapriziöse Sprache, wie sie von den Literaturwissenschaftler*innen in diesem Beispiel und auch sonst gerne verwendet wird. Friseure als „Praktiker des Haares“? Das Haar als „Ort narrativer Schnittgewalt“ und der „dramatischen (Ver-/Zer-)Knotung“? Ernsthaft?
Überhaupt scheint die Stunde der besonders prätentiösen Ankündigungssprache immer dann zu schlagen, je dünner das inhaltliche Material ist, das damit verpackt werden soll. Zur Bonner Konferenz Figur(ation)en der Gegenwart / Figure(ation)s of the Present [alleine schon der Titel!] heißt es unter anderem:
[...] [Untersucht werden] bildliche und argumentative Figurationen in fiktionalen aber auch nicht-fiktionalen Texten, die Funktionen der Konservierung zeitspezifischer Kommunikationsstandards, der Verdichtung in Form zeitlicher Kohärenzstiftung oder der Vergegenwärtigung erfüllen, also (mitunter alternative) Zeit- und Raumzusammenhänge evozieren.
Und was hat man sich hierunter nun konkret vorzustellen? Ein Wissenschaftler aus Zürich spricht in diesem Kontext über Die Aktualität der Institutionen. Über das präsentische Ordnungsregime der Gartenlaube.
Nun gibt es ja zugegebenermaßen nichts, was bei einer wirklich eingehenden Betrachtung nicht irgendwie interessant wäre (klassisches Beispiel: die Schneeflocke) und bestimmt lässt sich auch über „das präsentische Ordnungsregime der Gartenlaube“ trefflich sprechen und im Rahmen der Konferenz vielleicht sogar erbittert streiten. Angesichts des Umstands jedoch, dass die Kunst bekanntlich lang, das Leben aber kurz ist – und die Ressourcen der Germanistik notwendigerweise endlich –, muss die Frage gestattet sein, ob es wirklich das ist, was die Literaturwissenschaft zum gesellschaftlichen Diskurs beitragen möchte. Ebenfalls in Bonn interessiert man sich übrigens für den Wald in der Literatur des Mittelalters, ein internationaler Workshop in Brüssel für die Pantomime von 1800 bis zur Gegenwart: Gattung – Ästhetik – Entwicklung, ein interdisziplinärer Workshop in Bern beschäftigt sich unter der Co-Leitung der Älteren Deutschen Literaturwissenschaft mit Bau-, Schuld- und Rechnungsbüchern im eidgenössischen Kultur- und Kunstraum bis zur Reformationszeit und eine Münchner Konferenz untersucht die Triebökonomien des Abenteuers, in deren Kontext dann ein einstündiger Vortrag zum Thema Affekt und Triebökonomie als narratives Sujet und erzählerisches Problem im Romanwerk August Bohses (1661-1740) ansteht. August Bohse? Verzeihung, aber: who the fuck?
Dies alles mögen hochinteressante Schneeflöcklein sein, Antworten auf die Fragen unserer Zeit sucht man bei ihnen aber wohl vergebens. Gerade die Gegenwart und die Gegenwartsliteratur nach 1990 wird durch die Germanistik dagegen eher zurückhaltend erforscht; sie versteht sich offenbar primär als historische Wissenschaft.
Doch es gibt auch Gegenbeispiele, bei denen vor der Gegenwart nicht zurückgeschreckt wird und bei denen man dennoch versucht ist zu sagen: Knapp daneben ist auch vorbei. So entstand jüngst ein Sammelband mit dem Titel Stadt – Land – Mord. Regionalkrimis im Fadenkreuz des Erzählens. Der Ankündigungstext stellt folgende gewagte These auf:
[...] Die Literaturwissenschaft beginnt gerade erst, das Potential dieses Genres zu erkennen: Sowohl methodisch als auch erzähltheoretisch sind die Regionalkrimis bisher noch nicht angemessen literatur- und kulturwissenschaftlich in den Blick genommen worden.
Nun ja. Auch der altehrwürdige Goethe bleibt von solchem Gartenlaubenschnickschnack nicht verschont. Eine Konferenz in Chicago mit dem schönen Titel Goethe’s Things zerrt zur eigenen Absicherung gleich einmal einen der vielen „Turns“ der letzten Jahre und Jahrzehnte hervor, um dann thematisch völlig willkürlich um sich zu schlagen:
[...] The recent material turn in the humanities more broadly has given rise to multiple new approaches to, and theorizations of, objects, things, and stuff, from thing theory to the new materialisms, often emphasizing the lively or agentic quality of things. [...]
Topics that might be considered include: objects, subjectivity, affect, the sensorium; collections, exhibitions, galleries, studios, studies, libraries, archives, theatres; architecture; texts and images as material artefacts; paper; textiles; domestic culture and lifestyle; fashion; consumer goods and culture; copies and reproductions; the reception of antique artefacts; gardens; science (mineralogy, chemistry, etc.); instruments and apparatus (musical, scientific, etc.). [...]
Tja, oder irgendwelche anderen „Dinge“ eben. Sind nicht auch die Alpen ein solch hochinteressantes „Ding“? Aber ja doch! Das findet zumindest die Londoner Konferenz Alptraum(a): Alps, Summits and Borderlands in German-speaking Culture. Dort erfährt man dann viele Dinge über:
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- the Alps as a site of literary, filmic, philosophical, theatrical and artistic exploration.
- the Alps as a microcosm of broader historical trends and concerns.
- the alpine environment and ecological disaster.
- the role of alpine spaces and borderlands in a transnational and transcultural context.
- the Alps as a site in which the individual is confronted with their own psychology.
- the circulation and dissemination of ‘the Alps’ in global capitalism.
Dass sich die Germanistik mehr und mehr in einer Nische wiederfindet, hat also wohl weniger damit zu tun, dass sie von finsteren Mächten dorthin gedrängt worden wäre, als damit, dass sie diese Nischen selbst mit einem Enthusiasmus aufsucht, den man zwar irgendwie putzig, vor allem aber auch bemitleidenswert finden kann. Wo ist die Germanistik, die es wagt, die großen Fragen in einem großen Rahmen zu stellen und die sich dann auch nicht zu schön ist, ihre Erkenntnisse in einfacher, unprätentiöser Sprache zu formulieren und so einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen? Es ist ja nicht so, dass die Literaturwissenschaft nichts mehr zu sagen hätte – insbesondere, wenn sie sich noch viel stärker als Gesellschaftswissenschaft und nicht nur als historische Wissenschaft verstünde. Stattdessen aber sitzen beträchtliche Teile der Germanistik in ihren biedermeierlichen Gartenlauben und betrachten fasziniert, wie ein individuell-sechseckiges Schneeflöcklein nach dem anderen in ihren Händen zerschmilzt.