Man kann nicht an jedes Konzertprogramm den Anspruch einer einleuchtenden Dramaturgie stellen; des Öfteren werden in der alltäglichen Praxis der Agenturen Komponisten beziehungsweise Werke aus ganz profanen Gründen kombiniert und in ein Konzert gepackt, so wie an diesem Abend das Dritte Klavierkonzert Ludwig van Beethovens der Verpflichtung des Ausnahmepianisten Daniil Trifonov geschuldet sein mag: Verteilt auf alle eröffnenden Konzerte in der neuen Isarphilharmonie sollte der vollständige Zyklus der Beethovenschen Konzerte für Klavier und Orchester zur Aufführung gebracht werden. Abgesehen davon scheint es keinen tieferen Grund für diese Programmgestaltung gegeben zu haben.
Das Konzert beginnt mit Olga Neuwirths Masaot/Clocks without hands von 2011 (uraufgeführt 2015), einem faszinierenden Werk für großes Orchester, in dem die Dimension der Zeit eine zentrale Rolle spielt, die im Gesamtklang immer wieder durch tatsächlich tickende Metronome präsent ist. Neuwirth komponierte darin einen Erinnerungsprozess, einen Versuch der Selbstbefragung hinsichtlich ihrer Herkunft, ihrer Heimat. Die österreichische Komponistin bekannte, dass sie diesen Vorgang des Erinnerns als ambivalent verstehe, als „Komponieren von Musik als Heimat und Fremde zugleich. Zwischen vertrauten und nicht vertrauten Klängen [...] als unmögliche[n] Versuch, durch das Komponieren die Zeit anzuhalten.“ Gergiev und die Münchner Philharmoniker setzen dieses Anliegen Neuwirths höchst überzeugend um und arbeiten die vielen assoziativen motivischen Fragmente aus dem vor allem durch den Streicherapparat getragenen Klangfluss heraus. Nach dem Prinzip der Collage brechen aus diesem Strom immer wieder Melodiefetzen, Fanfarenstöße oder Marschrhythmen eruptiv hervor, Folklore aus dem Osten Europas klingt hier an, wirkt aber auch verfremdet, scheint sich nicht als Fluchtpunkt der Erinnerung anzubieten. Es wird ohrenfällig, dass dieses Werk sich an Gustav Mahlers Kompositionstechnik anlehnt, für dessen 100. Todestag es geschrieben wurde.
Der neue Konzertsaal an der Isar erweist sich als hervorragender Aufführungsort für diese Musik, weil er (zumindest vom Platz des Kritikers in der Mitte der 16. Reihe aus) für eine plastische Transparenz selbst in den massiven Tuttipassagen sorgt. Und Gergiev scheint Freude an diesem Werk zu haben, dessen Ausbrüche und Verästelungen er mit dem Orchester zusammen sehr engagiert Gestalt annehmen lässt.
An zweiter Stelle folgt das bereits erwähnte Dritte Klavierkonzert Beethovens, das als Scharnierwerk zwischen den luftigeren frühen und den auch in ihrer Aussagekraft gewichtigeren letzten beiden Konzerten steht. Daniil Trifonov ist unbestritten einer der großen Klaviervirtuosen seiner Generation und unserer Zeit, und sein Spiel an diesem Abend ist dementsprechend rasant, angriffslustig und bezwingend. Gergiev und auch der Konzertmeister haben alle Hände voll zu tun, das Orchester auf die Energie des Solisten einzuschwören, doch zu einem wirklichen Glücksfall gerät diese Aufführung nicht, da sich die gleißende Virtuosität des Pianisten und der (trotz einem sich bisweilen einstellenden Sturm-und-Drang-Gestus) eben doch eher dunkel grundierte, deutsch-romantische Klang der Münchner Philharmoniker nicht auf Anhieb verbinden. Der russische Tastenmagier will sich offenbar (noch) nicht auf die Tiefe Beethovens einlassen und brennt stattdessen ein Feuerwerk ab, bei dem die Philharmoniker eher als Sekundanten auftreten. Ist das eine Interpretation aus einem Guss? Eher nicht. Außerdem setzt sich der Steinway akustisch teilweise auf unangenehme Weise vom Orchester ab; man vernimmt ein metallisches Echo, als ob die Hämmerchen zu heftig auf die Saiten einschlagen würden. Liegt es an der Positionierung des Flügels, am Resonanzraum der Podien, am Instrument selbst, oder nur am Sitzplatz des Rezensenten? Fragen wie diesen sollten sich die Philharmoniker und Gergiev demnächst annehmen, damit es zu einer überzeugenden Klangbalance auch bei Solistenkonzerten kommt. Trifonov wird mit begeistertem, aber nicht überbordendem Applaus belohnt. München hat diesen Exzentriker, dessen lange Haare, wenn er sich tief über die Tasten beugt, beinahe seinen Fingern in die Quere kommen, schon ins Herz geschlossen.
Die zweite Hälfte des Konzerts hätte eigentlich ein Gergiev-Heimspiel sein müssen: Strawinskys Ballettmusik zu Pétrouchka in der Version von 1911. Den Rahmen bildet eine Handlung auf einem russischen Jahrmarkt. Hier zeigt ein Gaukler als Puppentheater die Geschichte des eifersüchtigen Clowns Pétrouchka, der sich in die Primaballerina verliebt, die allerdings nicht an ihm, sondern am aggressiven Mohren Gefallen findet. Zum Showdown kommt es dann auf der Ebene der Rahmenhandlung: Die lebendig gewordenen Puppen bewegen sich durch den Jahrmarkt, wobei der Mohr Pétrouchka letztlich stellt und tötet. Während der Gaukler der aufgebrachten Menge noch versichert, es handle sich doch nur um eine Puppe, erscheint der Geist Pétrouchkas über ihren Köpfen. Eine gelungene Aufführung dieser Ballettmusik muss sich einigen Herausforderungen stellen: vertrackte Rhythmen, eine auf engem Raum sehr abwechslungsreiche musikalisch Palette von volkstümlich-derb über zauberhaft-schillernd bis hin zu grellen Neonfarben, und das alles angereichert mit virtuosen Soloeinwürfen. Die Philharmoniker leisten durchaus Beeindruckendes, vor allem in der plakativen Charakterisierung des Jahrmarkttreibens, aber Gergievs Herangehensweise mutet bisweilen erratisch an; nicht alle Einsätze, die er gibt, führen zu klaren musikalischen Resultaten. Der Klang hat Wucht und auch Transparenz, jedoch würde dieses Werk mehr Trockenheit vertragen, und die rhythmischen Zahnräder müssten schneller und souveräner ineinandergreifen. Die Lesart des Chefdirigenten bleibt hinter dem Potenzial des Werks zurück, weil sie sich der Modernität der Partitur nicht deutlich genug widmet.
Dieser Konzertabend hinterlässt also einen Eindruck mit gemischten Gefühlen: An einer überzeugenden Nutzung der Akustik der Isarphilharmonie muss selbstredend noch gearbeitet werden. Das Programm ließ eine thematische Klammer vermissen, weshalb allerdings die distinkten Charakteristika der drei Klangwelten umso klarer hätten herausgearbeitet werden müssen. Valery Gergiev bestätig einmal mehr seinen Ruf als musikalischer Marathon-Mann, der in kurzer Zeit ein enormes Repertoire absolviert, jedoch eher selten zum Kern vordringt.