„Giselle“ ist der Inbegriff des klassisch-romantischen Balletts, fehlt in keiner großen Compagnie und ist natürlich auch im Repertoire des Bayerischen Staatsballetts vertreten. Seit 1974 ist die Fassung von Peter Wright im Münchner Nationaltheater zu sehen, die sich eng an der Choreographie von Marius Petipa orientiert. Zur Wiederaufnahme der Produktion, mit der im Herbst 2016 Igor Zelensky seinen Einstand als Ballettdirektor gab, war der alte Herr (Jahrgang 1926) noch einmal nach München gekommen, um seiner Arbeit bei den Endproben den letzten Schliff zu verleihen. In einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung bescheinigte der Meister den Münchner Tänzern eine „tolle Technik“. Gleichwohl hätte er gerne noch intensiver mit ihnen gearbeitet, weil zu einer gelungenen Darstellung eben auch „Persönlichkeit und das Gefühl für das Getanzte“ gehöre. Gerade daran gebrach es der Wiederaufnahme 2016 denn auch: So brillant Sergei Polunin als Albrecht und Natalia Osipova als Giselle auch gewesen sein mögen, emotional wirkte ihre Darstellung seltsam unbewegt.
Jetzt ist nach längerer Pause „Giselle“ auf den Spielplan des Staatsballetts zurückgekehrt. Mehrfach musste die für Mitte Januar geplante Wiederaufnahme wegen Coronafällen im Ensemble verschoben werden. Am Samstag konnte die Geschichte von Giselle, Hilarion und Albrecht wieder auf der Bühne des Nationaltheaters erzählt werden, wenn auch in einer „in der Statisterie reduzierten Fassung“ (so der Besetzungszettel) und vor nur wenigen, maskierten, geimpften, geboosterten und getesteten Zuschauern. Keine leichte Situation für die Tänzer des Staatsballetts.
Umso erfreulicher war diese Wiederbegegnung mit „Giselle“. Unverzichtbar für eine gelungene Aufführung ist neben der stimmigen Besetzung der Hauptrollen ein gutes Ensemble, aus dem in kleinen Szenen immer wieder Spitzenleistungen hervorragen, vor allem im berühmten Pas de six. Hier glänzte an der Seite von António Casalinho besonders Shale Wagman mit stupender Präzision und geradezu raubtierhafter Geschmeidigkeit. Doch wurde nicht nur mit klassischer Technik brilliert. Besonders im realistischeren ersten Akt gelang auch eine glaubhafte und anrührende Erzählweise. Das ist Prisca Zeisel und Emilio Pavan zu danken, die ihre Debüts als mädchenhaft grazile Giselle und als nobel eleganter Herzog Albrecht gaben. Jonah Cook überzeugte als eifersüchtiger Hilarion in ihrer Mitte mit seiner intensiven Rollengestaltung, besonders am dramatischen Ende des ersten Aktes. Hilarion deckt auf, dass sein Rivale Albrecht keineswegs ein einfacher Bursche vom Lande, sondern adelig und überdies verlobt ist, woraufhin Prisca Zeisel als Giselle mit offenem Haar und blassem Antlitz erst dem Wahnsinn verfällt und dann effektvoll zu Boden sinkt. Todesursache: Gebrochenes Herz. Große Gesten zum Ausdruck großen Jammers, befeuert vom Bayerischen Staatsorchester, das unter der Leitung von Robertas Šervenikas zu einem animierten Spiel fand.
Dass die Probenzeit für diese Wiederaufnahme durch die pandemische Lage verkürzt war, merkte man am ehesten im heiklen zweiten Akt. Wenn die Wilis – also die Geister jener Mädchen, die zu Lebzeiten von ihren Verlobten verlassen wurden und noch vor dem Tag der Eheschließung verstarben – um Mitternacht unter der Ägide ihrer Königin Myrtha (Elvina Ibraimova) die Szenerie um Giselles Grab am Waldesrand beherrschen, so glückt noch nicht jede Geste in perfekt synchronem Gleichmaß. Und später, wenn zunächst Hilarion und dann Albrecht von diesen weißen Rachegeistern dazu gezwungen wird, sich buchstäblich zu Tode zu tanzen, so wirken beide Auftritte, die den Darstellern freilich ein Äußerstes abverlangen, noch nicht dringlich genug. Hier müsste aber spürbar werden, dass ein Tanz auf Leben und Tod im Gange ist. Nur so könnte Giselles Rettungstat verständlich werden: Sie steht dem immer kraftloser werdenden Albrecht bei, bis endlich der Morgen graut und die Wilis ihre Macht über ihn verlieren. Heftiger Beifall dankte für eine überzeugende Wiederaufnahme unter erschwerten Bedingungen.