Gerhart Hauptmanns Rose Bernd ist seit der Uraufführung am Deutschen Theater Berlin im Oktober 1903 für Skandale gut gewesen. Dabei passt das Stück in seiner Berner Neueinrichtung – eine Bochumer Inszenierung von 2015, die am Frankfurter Schauspiel 2017/18 zu sehen war und im weiteren Aufguss als Visitenkarte des neuen Schauspieldirektors Roger Vontobel angesetzt wurde (Premiere 9. September 2021) – noch immer zu gut zu den seit Me too ruchbarer gewordenen Praktiken von Machtmissbrauch, sexualisierter Gewalt und sexistischer Diskriminierung. Es geht aber auch um Klassen- und soziale Gerechtigkeit, Religiosität und gelebtes Christentum, Tradition und Selbstbestimmung.
Eine Berner Inszenierung kam bereits 1904 zustande, während das Stück zeitgleich in Wien nach fünf Aufführungen abgesetzt wurde (Habsburg was not amused). In die Bewegung, die das bürgerliche Trauerspiel seit Lessing genommen hat, vom Bürgertum übers Kleinbürgertum stetig in die Unterschicht durchrutschend, reiht sich Rose Bernd konsequent ein: Von Lessings Sara Sampson und Emilia Galotti, Schillers Kabale und Liebe und Goethes Gretchentragödie im Faust, über Hebbels Maria Magdalena bis hin zu Kroetz oder Fassbinder, Schwab oder Jelinek.
Was schon Hauptmann anlegt, dass die sozial höher stehenden Personen dialektal weniger ausgeprägt und die untenstehenden und älteren deutlicher Schlesisch sprechen, wird auch in Vontobels Inszenierung umgesetzt. Christoph (Heiko Raulin) und Henriette Flamm (Susanne-Marie Wrage) parlieren gehoben, Arthur Streckmann (Jan Maak) und Vater Bernd (Matthias Redlhammer) am auffälligsten Schlesisch. Dabei wirken nicht alle Schauspieler zu allen Zeiten gleich sprachgewandt, reden ihr kolloquial verschliffenes Schlesisch mitunter, als wäre es eine mangelhaft beherrschte Fremdsprache.
Wobei das vorzeiten schon gegen Hauptmann vorgebracht wurde; es ist eine Kunstsprache, die er auf die Bühne bzw. ins Textbuch gebracht hat, die entweder verkünstelt nachgesprochen oder von stilsicher Sprechenden schwerer verständlich fließend vorgetragen wird. Das gelingt am besten Redlhammer und Maak, den Rollenbesetzungen entsprechend. Es geschieht aber nicht immer gleich überzeugend, wodurch das Oszillieren der Personen zwischen Auf- und Abstieg, besonders bei den sozial beweglichsten jüngeren Rose Bernd (Yohanna Schwertfeger) und August Keil (Kilian Land) gleichermaßen gut durchkommt.
Die Halbwaise Rose will raus aus der engen Dießdorf-Welt (die überall sein könnte) und etwas gänzlich anderes (nur was? „Am liebsten fleeg’ ich ei alle Welt“ meint sie); der Vollwaise August („Ma is eim Waisenhaus uffgewachsen! Ma hat keene Häuslichkeit niemals gekannt!“), ihr frommer Verlobter, den sie seit drei Jahren mit der Hochzeit hinhält, eigentlich nur ankommen und dazugehören. Mit dem gleichen Weltekel; er will sich „in unsere vier Wände einschließen, und da wolln mer a stilles Leben fiehren“, denn „von der Welt will ich nischt ni meh wissen. – Mich widert das ganze Gemächte an! Ich hab’ so an Ekel vor Welt und Menscha“. Roses Schwester Marthel (Nanny Lina Erika Friebel) ist in ihren wenigen Auftritten im ersten und fünften Akt so gut wie stumm, ihre Redeanteile wurden fast gänzlich gestrichen; viele Figurenreden und komplette Personen fielen Strichen zum Opfer.
Soziale Bewegungen und unterschiedliche Arriviertheit werden zugleich in den gelungenen Kostümen (Ellen Hofmann), die nicht nur Stufungen und Hierarchien anzeigen, sondern auch den jeweiligen Grad der emotionalen Bedrängnis und moralischen Verlotterung, sichtbar: aufgeknöpfte oder aus den Hosen heraushängende Hemden, verlorene oder um den Hals gehängte Schlipse und Krägen, herumliegende oder in Händen gehaltene Hüte. Sichtbar und fast riechbar werden Arbeit und Schweiß, Schmutz und Dreck der Tätigkeiten, denen die Personen zum Lebensunterhalt nachzugehen haben.
An ihnen allen klebt nach kurzer Zeit Goldflitter. Der regnet über 100 Minuten kontinuierlich auf die Bühne und wechselt von Himmelsgnade (im Sterntaler-Märchen fallen Sterne als „lauter blanke Taler“ vom Himmel) zum Seelenmüll, auf dem man ins Rutschen gerät, egal wie oft der Glitter zwischenzeitlich weggewischt wird. Wenn Rose und Flamm im ersten Akt beisammen liegen und im Goldregen glücklich zu sein scheinen, klebt er ihnen kurze Zeit später wie Heu oder Stroh von Kornfeld oder Heustadel verräterisch am Körper. Flitterkram und Tand, kein echtes Gold, kein echtes Glück. Goldmarie wird zur Pechmarie.
Die erhöhte und steil ansteigende Bühne (Claudia Rohner) ist dunkel und minimalistisch mit meist einem Objekt als Requisite versehen, die Darsteller stehen oft alleine und für sich. Bühnenbild gibt es keines, die variierende Intensität des Goldregnens und unterschiedlich geführtes und intensiv eingesetztes Licht (Bernd Felder, Christian Aufderstroth) lassen gleichwohl die Akte und Szenen gut unterscheiden. Eine Batterie von 18 Scheinwerfern wird hinter der Bühne variierend nach oben und unten bewegt. Immer wieder kommt es zu Festen (nur nicht zur ersehnten Hochzeit), auf denen getanzt und gesungen wird. Dann erklingen modernisierte Volkslieder wie etwa Goran Bregovićs „Be that Man“. Mitunter laufen die Personen um und vor die Bühne bzw. verlassen die erweiterte Bühne über die Seitentüren des Zuschauerraums.
Das tut auch die stets präsente Begleitmusik, die Berner Brassband Traktorkestar, die aber meist auf beide Seiten verteilt hinter der Bühne spielt. Sie führt die für Bochum als auch Frankfurt komponierte Musik Matthias Herrmanns gekonnt auf und liefert neben östlich-ländlicher Balkan-Blasmusik zudem gelungene Hintergrundgeräusche, wenn die Instrumente angestoßen oder leicht angeblasen werden, etwa um die Geräusche der alle enervierenden Dreschmaschine Streckmanns nachzubilden.
Optischer Höhepunkt der Inszenierung und Markierung des mütterlichen Gewaltakts, Rose gebiert und tötet ihr Kind, ist ein letzter überreicher Goldschauer. Dann endet der Goldregen abrupt. Die Probleme sind geblieben bzw. erst zu richtigen geworden. Rose steht wie das Waisenmädchen im Märchen mit nichts mehr als dem Hemdchen da, doch der überreich herumliegende Goldflitter taugt zu nichts. Auch Goldregen ist giftig, „reich für sein Lebtag“ wird eine nur im Sterntaler-Märchen.
Rose aber hat nicht nur ihre Mutter, auch ihr Kind verloren. Aus der sozialen Mutter, die sich um ihre jüngeren Geschwister aufopferungsvoll kümmerte, wurde eine biologische, doch keine gute fürs eigene Kind. Was Frau Flamm bzw. die verstorbene Mutter Bernd unschön prophezeiten, erfüllt sich: „Deine Mutter sagte amal zu mir: meine Rose, das wird ane Kindermutter! Sonste aber, ihr Blutt is a wing gar zu heeß!“
Liest man das Stück heute wieder, verhält man sich womöglich indifferent gegenüber dem Schicksal der Titelheldin. Die Rührung, die Hauptmann selbst in einem Gerichtsprozess überkam, an dem er 1903 als Geschworener teilnahm und dort für Freisprechung der Kindsmörderin Hedwig Otte votierte, stellt sich nicht zwangsläufig ein.
Doch Mitleid hat man als Zuschauer, was nicht allein dem überragenden Spiel der Hauptdarstellerin Schwertfeger zu verdanken ist, sondern ebenso dem Raulins als Dorfschulzen. Er ist ein Ekel und abstoßend durchtrieben, gewalttätig, schreit herum, schmeißt mit Gegenständen. Bei Bedarf freundlich und manipulativ, ist er typischer Sexualtäter, was im Stück angelegt ist, aber so klar selten herausgearbeitet wird, als mächtiger Dienstherr und Brotgeber, auch sozialer Vater.
Die mutterlos aufwachsende Rose, Spielgefährtin des früh verstorbenen Flamm-Sohnes Kurt und in einer Idealwelt des 19. Jahrhunderts dessen vorbestimmte Ehefrau (soziale Geschwisterkinder heiraten im deutschsprachigen Realismus einander), besetzt für die untröstliche Mutter Flamm die Kinderrolle, wird von Bonusvater Flamm im Gegenzug aber sexuell missbraucht. Dass der perfide Beschuldigungen anstellt, macht es nicht besser: „Nu was denn, ihr Weiber macht uns zu Hunden. Heute der, morgen der, ’s is bitter genug! – […] ich kann nich anders.“
Bei Hauptmann wird Flamm gefühlsduselig als Mann zwischen zwei Frauen gezeichnet, der in Rose ernsthaft verliebt ist, aber weder die erkrankte ältere Ehefrau noch die Konventionen verletzten will. Bei Vontobel fällt es schwer, ihn so zu sehen. Er ist ein mieses Schwein, das Notlagen anderer gnadenlos ausnutzt, Sex mit Untergebenen hat, sein Amt missbraucht und seine Befugnisse überschreitet, sich darüber lustig macht, dass Schwächere moralische und religiöse Regeln befolgen. Dabei geriert er sich nach außen als Hüter von Anstand und Recht, etwa bei der Entlassung von Mägden oder Verprügelung von Knechten. Wenn er Rose hinterherheult und -hechelt („Rosiiiiiiine!“), sie zu ködern sucht wie ein ralliger Kater, dabei spitzbübisch grinst, wird Flamm zum wahren Widerling und Unsympathen des Stücks.
Und das noch vor Streckmann, von Maak ebenfalls großartig gespielt. Der ist zwar ein Säufer und brutaler Schläger, vergewaltigt Rose und schlägt August ein Auge aus, wirkt am Ende aber doch weniger abstoßend als Flamm, ist ehrlicher, weniger verlogen. Bei Hauptmann ist das anders zugewiesen, hier ist Flamm der Sympathieträger, der gerne anders handeln würde, aber aus vielerlei Rücksichtnahmen nicht kann. In der Inszenierung Vontobels ist das so nicht vorstellbar. Bei Hauptmann ist Flamm ein Jäger, der zusätzlich das Amt des Dorfschulzen versieht, bei Vontobel ein Großbürger, der sich über alle anderen stellt, Recht und Gesetz mit Füßen tritt und den Provinzpotentaten und Großwildjäger gibt. Das wird von Raulin sensationell gut gespielt.
Richtig empathisch sind nur die Jungen, doch die bezahlen dafür. Allen voran Rose, die sich aufgerieben hat als Ersatzmutter für ihre Geschwister und als Haushaltshilfe des Vaters. Sie sieht wohl noch den Sex mit Flamm als Teil des Commitments an, zu dem sie verpflichtet ist, auf dass alle anderen es einmal besser haben sollen, wenn nur sie sich beugt und anstandslos in alles einwilligt. Darüber vergisst sie sich völlig: „Immer schlagt uff mir rum, ich verdien’ das nicht besser! Immer putzt euch an mir eure Stiefeln ab“.
Rose tritt ihr Glück jedoch selbst mit Füßen, ist doch Keil nicht minder großherzig als Josef gegenüber Maria – die heilige Familie könnte nachinszeniert werden. Sogar Streckmann, der ihm das Auge ausgeschlagen hat, wird großmütig verziehen: „Gottes Wege sein wunderbar! – A kann eem täglich Priefungen schicken! – Selbstgerecht darf eemal der Mensch ni sein! – […] Wie’s o is, Vater Bernd, ich verlass’ se nich!“
Doch der liebe Augustin und seine Pechmarie sind beide vom Glück nicht gesegnet. Der im Waisenhaus aufgewachsene Buchbinder („mager, engbrüstig, und die ganze Gestalt verrät den Stubenhocker“ heißt es bei Hauptmann) spricht, er sei „ebens bestimmt zum Unglicke“, und ist es genauso wie seine Verlobte, die ihm zugesteht: „August hat o ausgestanden genug! – Dem seine Krankheit und dem sei Unglicke ...“. Selbst zur Hochzeit reicht es nicht, alles ist hin, auch Unglück infektiös. Rose resümiert „Ma is halt zu sehr ei d’r Welt verlass’n! Ma is eemal zu sehr alleene dahier!“ und August meint zuvor: „Wenn mir oll’s asu bitter bis hierhar stieht, da lach’ ich! Da hab’ ich an Freede, zu sterba! Do freu’ ich mich orndtlich wie kindsch dadruff.“ Drama Baby, wir sind nicht in einer Komödie, da bleibt leider nur der Tod.
Vontobel bzw. die neue Chefdramaturgin Felicitas Zürcher streichen die Nebenrollen weg (Arbeiter und Gesinde der Flamms, Gendarm), was dem Stück gut bekommt. Rose Bernd wird in knapp zwei Stunden gespielt, es fehlt über ein Viertel des Textes. Das kann zu Irritationen führen: Der Schluss mit dem Auftritt der Staatsgewalt (der Gendarm wird gänzlich gestrichen) und den Worten Augusts: „Das sein keene Phantasien, Herr Wachtmeester. Das Mädel ... was muß die gelitten han!“ fällt weg. Bei Hauptmann wird Rose ohnmächtig, bei Vontobel ist unklar, was mir ihr geschieht.
In einem von den Bühnen Bern aufgeschalteten Interview spricht Yohanna Schwertfeger über eigene Erfahrungen und darüber, wie „total heutig“ Rose Bernd mit seiner „Geschichte innerhalb von patriarchalen Strukturen“ sei: „Das Stück finde ich gerade sehr sehr relevant.“ Das stimmt sicherlich, im Berner Second Flush vielleicht noch mehr als zuvor in Bochum oder Frankfurt, alle tun alles dafür, das zu zeigen. Zugleich sollte sich Theater, das Relevanz beansprucht und um aktuelle Probleme bekümmert, das Theater als moralische Anstalt, auch fragen, wie es mit seinen Schauspielern umgeht und was sonst noch so alles nicht passt und schiefgeht.
Me too, im Programm prominent thematisiert, war gerade deswegen im Bereich von Bühne und Film, in Sprech- und Musiktheater, besonders aufrüttelnd, weil Strukturen mit befristeten Verträgen gerade dort die Voraussetzungen für Erpressbarkeit und Manipulierbarkeit bieten. Daran hat sich wenig geändert. Dass Schauspielensembles nach Intendantenwechseln fast vollständig ausgetauscht bzw. erheblich reduziert werden, ist noch immer gängige Praxis.
Das zeigt sich auch in Bern: übriggeblieben sind von allen Ensemblemitgliedern unter Cihan Inan lediglich David Berger, Jonathan Loosli und Stéphane Maeder. Dann aber immerzu von frischem Blut, frischem Wind, „Neustart von Bühnen Bern“ mit den üblichen Euphemismen zu sprechen, die wirtschaftliche Unsicherheit und fehlende Lebensplanbarkeit bedeuten, ist brutal. Solange bei Intendantenwechseln wie bei Witwenverbrennungen komplette Ensembles entlassen werden bzw. Intendanten wie Bienenköniginnen, wie dies der Schauspieler Jürgen Holtz 2017 in einem offenen Brief dem ehemaligen Berliner Oberbürgermeister darlegte, mit ihren Völkern weiterziehen, ändert sich nichts.
Immerhin: Raulin war schon in Frankfurt dabei, Redlhammer sowohl in Bochum als auch in Frankfurt. Es spricht für Vontobel, dass er zu seinen Schauspielern hält; um den Preis, dass an der neuen Wirkungsstätte bereits vorhandene überzählig werden. Schwertfeger ist ebenfalls neu zum Ensemble gekommen; sie spielt überragend. Jedoch hätte Marie Popall aus dem alten Ensemble das gleichermaßen eindrücklich hinbekommen. Wer gesehen hat, wie sie zum Beispiel Elektra gespielt hat oder Clarisse in Der Mann ohne Eigenschaften, kann nicht zweifeln, dass auch sie eine überwältigend gute Rose Bernd gegeben hätte. Und Chantal Le Moign, Jürg Wisbach oder besonders Gabriel Schneider, alles Schauspieler, die bisher zum Berner Schauspielensemble zählten – welches Theater kann es sich eigentlich leisten, sie einfach nicht weiterzubeschäftigen? „Da is eener akrat a soviel wert wie d’r andre.“ heißt es in Rose Bernd über die Männer. Sollte das auch auf Schauspieler zu münzen sein? Dass jeder ersetzbar ist? Weil es überall so läuft? „Das is ebens, wie’s ebens ieberall is: ma sitt, wo man hinsitt, es is eemal ni andersch. Nu ja ... ma muß lachen! Mehr is weiter nich.“ kommentiert das Stück selbst.