Herbert Blomstedt bei den Salzburger Festspielen
Herbert Blomstedt und die Wiener Philharmoniker begeistern bei den Salzburger Festspielen mit Honegger und Brahms
Salzburg, 29. August 2021, Raphael Haghuber

Sein Name ruft selbst bei vielen eingefleischten Fans klassischer Musik im deutschsprachigen Raum ein Achselzucken hervor: Arthur Honegger. Das sagt viel über die engen Grenzen des Standardrepertoires unseres Konzertbetriebs aus, denn immerhin hinterließ der Sohn Schweizer Eltern, der sich als Wahlfranzose verstand, mit seinen fünf Symphonien einen wichtigen Beitrag während einer der letzten Blütezeiten dieser Gattung. Um ihn und seine in hohem Maße spannende Musik auch außerhalb Frankreichs und der Schweiz bekannter zu machen, bräuchte es mehr prominente Fürsprecher. Immerhin, einen ganz besonderen konnte man in diesem außergewöhnlichen Konzert der Wiener Philharmoniker im Rahmen der Salzburger Festspiele 2021 erleben: den Grandseigneur unter den Dirigenten symphonischer Werke, den 94 Jahre alten Herbert Blomstedt.

Ob Honegger alleine das verwöhnte Festspielpublikum so zahlreich in das Große Festspielhaus gelockt hätte, bleibt Spekulation, aber neben dessen Dritter Symphonie stand nach der Pause noch die Vierte von Johannes Brahms auf dem Programm. Sicher ist sicher, möchte man munkeln, doch die beiden Komponisten, deren Schaffensperioden einige Jahrzehnte auseinander liegen, haben mehr gemeinsam, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Von daher erweist sich deren Gegenüberstellung als intelligenter Kunstgriff. Sowohl Brahms als auch Honegger schätzten die Auseinandersetzung mit der Tradition und mit alten Kompositionstechniken; sie erhielten ihre Einsichten beide unter anderem aus dem Studium Bachscher Kantaten. Brahms (1833–1897) ließ sich dann jedoch viel Zeit mit seinen Symphonien; der lange Schatten Beethovens wie auch die hohen Erwartungen seiner Zeitgenossen lähmten ihn geradezu, denn er konnte sich nur schwer vorstellen, wie eine Weiterentwicklung dieser Gattung aussehen könnte. In einem Brief an den Dirigenten Hermann Levi bekannte er einst folgendes: „Du hast keinen Begriff davon, wie es unsereinem zu Mute ist, wenn er immer so einen Riesen hinter sich marschieren hört.“ Dass Brahms mit seinen vier Symphonien einen essentiellen Beitrag geleistet hat, ist heute unbestritten. Geniekult aber war dem Komponisten fern, eher verstand er sich als sorgfältiger Handwerker. Das verbindet ihn ebenfalls wieder mit Arthur Honegger (1892-1955), der bei der Beschreibung seiner Tätigkeit den Vergleich mit einem Tischler an der Werkbank anstellte. Er begeisterte sich für die Strömung des Neoklassizismus (Komponisten wie Prokofiew und Strawinsky) mit deren kompromissloser Geradlinigkeit und gehörte neben unter anderem Milhaud und Poulenc dem Pariser Kreis „Les Six“ an, der sich zeitgenössischen musikalischen Formen, vor allem auch den unterhaltenden, zuwandte. Den Selbstzweck einer Art „musique pure“ lehnte er dementsprechend ab: Seine fünf Symphonien bilden einen (imaginären) Zyklus über die conditio humana, über die Grundbedingungen der menschlichen Existenz, und sind somit Ausdruck eines philosophischen Ansatzes. Brahms und Honegger hatten also beide die Tradition im Kopf, um den Blick nach vorne zu richten und Neues zu erschaffen.

Wie verlief nun die Begegnung dieser Komponisten mit den Wiener Philharmonikern und Herbert Blomstedt? Honeggers Dritte Symphonie von 1946, die den Beinamen „Liturgique“ trägt, reflektiert die Verfasstheit des Menschen unmittelbar nach den Grauen des Zweiten Weltkriegs in Form von drei Sätzen, die nach den Anfängen liturgischer Gesänge benannt sind. Im ersten Satz, einem mit „Dies irae“ betitelten Allegro marcato, nimmt die Schreckensvision des Jüngsten Gerichts klanglich Form an. Holzschnittartige Themen in kühner Harmonik sowie eine von unerbittlicher Motorik geprägte Rhythmik dominieren den Gesamteindruck. Blomstedt und das Orchester erzeugen eine düstere, verzweifelte Atmosphäre, doch der luxuriöse Klang entbehrt zu oft der nötigen Schärfe und Härte, beziehungsweise einer französischen „clarté“. Nicht alle Einsätze kommen präzise genug daher, der charakteristische perkussive Duktus des Orchestersatzes könnte deutlicher herausgearbeitet werden. „De profundis clamavi“ ist dem langsamen mittleren Satz als Motto vorangestellt, und tatsächlich hebt sich der Klang wie eine schmerzhafte Totenklage empor. Hier können die Wiener Philharmoniker mit subtiler Herausarbeitung der Polyphonie und fantastischen Instrumentalsoli glänzen, vor allem die Flöten bleiben mit ihren exponierten Linien im Gedächtnis. Wie ein Hoffnungsschimmers für die Menschheit am Horizont klingen die Passagen der homogenen Streichergruppe. Blomstedts sparsame Dirigiertechnik führt das Orchester auch durch den dritten Satz, der nach finsteren, sich steigernden Marschrhythmen, die sich wie Aufschreie auftürmen, in einem musikalischen Gebet mündet, das an Zartheit seinesgleichen sucht. Passenderweise wählte Honegger „Dona nobis pacem“ als Überschrift dafür, und tatsächlich machen Dirigent und Orchester hier den Abglanz einer Utopie des inneren und äußeren Friedens erfahrbar. Nach dem Verklingen des letzten Tons herrschen 30 Sekunden gebannte Stille. Der folgende Applaus stellt sich nur zögerlich ein, so tief scheint das Publikum vom Gehörten erfasst worden zu sein.

Dass jedoch die wohlbekannte Vierte Symphonie von Johannes Brahms, uraufgeführt 1885, zum eigentlichen Ereignis der Matinee werden würde, war nicht abzusehen. Selbstverständlich betrachten die Wiener Philharmoniker dieses Werk eher als ihr Idiom, aber solche typischen und vom Publikum ersehnten Konstellationen von Traditionsorchestern und Werken der Romantik führen oft auch zu spannungsarmen Ergebnissen (wie beispielsweise bei Riccardo Mutis Geburtstagskonzert mit den Wienern in der Mailänder Scala, das bisweilen musikalisch statisch geriet). Doch Blomstedt erweist sich mit seiner profunden Partiturexegese als genau der richtige Motivator. Das eröffnende Allegro non troppo nimmt in symphonischer Strenge Gestalt an, aber alles bleibt stets im Fluss. Der Mann am Pult zeichnet das Wechselspiel zwischen Verdichtung und Entspannung derart organisch nach, dass auch die Verschleierungen der rhythmischen Schwerpunkte durch Akzentverlagerungen und Triolen in vollendeter Souveränität erklingen. Überhaupt begeistert, wie einleuchtend die Temporelationen in der ganzen Symphonie realisiert werden. Im zweiten Satz, dessen harmonische Spannung unter anderem aus der Überlagerung des phrygischen Modus (e-Moll ohne Vorzeichen) mit vertrauten Tonarten erwächst, bricht sich latent der Charakter eines Trauermarsches Bahn, was eine verführerische Parallele zu Honeggers Werk aus der ersten Konzerthälfte darstellt. Blomstedt lässt die Wiener Philharmoniker in der richtigen Dosierung sehnsüchtig klagen. Nie kippt der Klang in breites Pathos, vielmehr verwirklichen die Philharmoniker ein echtes Espressivo, bis in die feinste Pizzicato-Begleitung hinein. In dieser Kunst der Verbindung aus Schlichtheit und Erfülltheit zeigt sich abermals Blomstedts Umsicht. Wilder geht es im Allegro giocoso zu, in dem sich Brahms' herber, ja beinahe boshafter Humor zeigt. Selbst die deutlich hörbare Triangel, ein Unikum in seinen Symphonien, klingt hier in den Gesamtklang integriert. Im berühmten vierten Satz huldigt der Komponist durch eine mächtige Passacaglia über ein Thema aus Bachs Kantate BWV 150 der Tradition der barocken Musik, öffnet aber zugleich neue Horizonte: Über einen sich wiederholenden, ostinaten Bass werden ein Thema sowie 30 Variationen und eine Coda aneinandergereiht. Dadurch erreich Brahms ein Maximum an Veränderung aus einer minimalen motivischen Keimzelle heraus, wie später Arnold Schoenberg bewundernd hervorhob. Was jedoch nach Ansicht vieler Zeitgenossen zu intellektuell klang, wird hier zum absoluten Ohrenöffner: Blomstedt arbeitet die einzelnen Charaktere der Variationen deutlich heraus, lässt den Satz aber dennoch wie aus einem Guss wirken. Und die Wiener Philharmoniker verdichten all ihre Musikalität, um eine Krone der Symphonik zu zeigen, die man im Saal simpel und ergreifend bestaunt.

Herbert Blomstedt erweist sich als Meister der symphonischen Musik, selbst wenn Honeggers Dritte noch mehr Schärfe und Klarheit in Klang und Rhythmus hätte vertragen können; das Wiener Traditionsorchester fremdelte wohl noch mit dieser Tonsprache, aber sein idiomatisch romantischer Klang trug dafür die schönsten Früchte in Brahms' Vierter, weil Blomstedt alle Beteiligten zu einer wendigen und hellwachen Musizierweise zu animieren vermochte. Der schwedische Dirigent schaffte es, symphonische Strenge und emotionale Durchdringung zu vereinen, und das bei maximaler Transparenz trotz Klangfülle. Feinste dynamische Abstufungen und organische Übergänge wurden derart überzeugend realisiert, dass sich der Eindruck von Schönheit ohne Selbstzweck unweigerlich einstellte. Der Gedanke drängte sich auf, dass es genau so sein müsse, als hätte man Brahms beim Komponieren über die Schulter geblickt. Das Publikum dankte es durch stehende Ovationen, die bestimmt keinem Altersbonus für den Dirigenten geschuldet waren. Ein außergewöhnliches Ereignis mit Referenzcharakter!