In einer Rundumschau – besser vielleicht: in einem Rundumschlag – nahm Wiebke Hüster in einem in der vergangenen Woche in der FAZ veröffentlichten Artikel die aktuelle Tanzszene Deutschlands in den Blick. Ihre scharfe Analyse kommt zu einem vernichtenden Befund: „Verleugnet und vergessen“ (so die Überschrift des Beitrags) sei die große Tradition des klassischen Tanzes: „Das Erbe der Vergangenheit verspielt, die Gestaltung der Zukunft vertändelt: Die gegenwärtige Lage des Tanzes ist desolat.“ Neuen Kreationen fehle die „innere Notwendigkeit“, das „Gefühl, dass Klassiker wirklich von Bedeutung sind“, schwinde, weil das Bewusstsein für die eigene Historie mehr und mehr abhandenkomme. Schuld daran sei nicht zuletzt das Tanztheater. Es habe „den klassischen Tanz zerfressen wie Motten die Vorhänge von Versailles.“
Wie ein Beleg zu dieser sicherlich polemisch zugespitzten These – und zugleich wie ein Einwand gegen sie – erschien der dreiteilige Ballett-Abend, der am 24. Juni im Münchner Prinzregententheater Premiere hatte. Seit etlichen Jahren ist es eine schöne Tradition, dass das Bayerische Staatsballett seine Saison unter dem Titel „Heute ist morgen“ mit zeitgenössischen Choreographien beschließt, die eigens für die Münchner Compagnie geschaffen werden. Und es stimmt schon: An die große Tradition des klassischen Tanzes schließen diese Arbeiten nicht unmittelbar an. Spitzentanz gibt es in keiner der drei Arbeiten zu sehen, die wirklich eher dem Tanztheater zugehören als dem klassischen Ballett mit seinem kanonisierten Bewegungsvokabular. Das spricht natürlich per se nicht gegen sie. Entscheidend bleibt die konkrete Einzelleistung. Und die variierte von Werk zu Werk an diesem Abend im Prinzregententheater beträchtlich.
„Dunkelgrau“ von Özkan Ayik überzeugt am wenigsten. Der Choreograph, aus der Türkei gebürtig und in Stuttgart ausgebildet, scheint für sein Stück kein rechtes Thema gefunden zu haben. „Dunkelgrau“ fehlt es tatsächlich an ‚innerer Notwendigkeit‘. Ayik will den acht Tänzern (vier Damen und vier Herren, die allesamt dunkel gekleidet sind und sich auch in ihren Bewegungen nicht unterscheiden) viel Raum zur Entfaltung lassen. Dass mit diesem Ansatz („es sollte sich so anfühlen, als würde sich das Geschehen gerade im Moment ereignen“) das Risiko verbunden ist, „in eine Sackgasse“ zu geraten und plötzlich vor einer „großen Leere“ zu stehen, wie Ayik im Programmbuch einbekennt, zeigt die Aufführung leider deutlich. Die zwanzigminütige Arbeit wirkt merkwürdig ungeformt und beliebig, was auch mit der mangelnden Präzision der Tänzer an diesem Abend zu tun haben mag. Dabei gibt es durchaus eindrucksvolle Momente: Wenn die Solisten auf der nächtlichen Bühne nach und nach in einen scharf umrissenen Lichtkegel treten und in ihm zugleich präsent und gefangen sind, entstehen starke Bilder. Davon hätte man sich mehr gewünscht.
Ähnlich in der Ästhetik (dunkle Bühne, dunkle uniforme Kostüme) und doch ganz anders in der Wirkung gerät „To get to become“ von Philippe Kratz, der schon zwei Mal von der Zeitschrift „Tanz“ als „Hoffnungsträger“ ausgezeichnet wurde. Dass seine Arbeit so viel spannungsreicher gelingt, liegt nicht zuletzt an der faszinierenden Beleuchtung von Christian Kass, die von Beginn an für Atmosphäre sorgt. Ein großer, über der Bühne schwebender Spiegel wirft indirekt einen Lichtstrahl auf die Bühne, wobei im nebeligen Hintergrund eine Art von Feuersprühregen aufsteigt. In merkwürdig seitlich verlaufenden Schritten bewegen sich die Tänzer zur stark rhythmischen Musik (Mika Vainio) über die Bühne und erinnern dabei weniger an Menschen als an fremde Wesen aus den Tiefen des Ozeans oder Weltalls. Doch immer wieder erscheinen sie plötzlich wie erlöst, treten solistisch hervor, finden zueinander, berühren sich zur Musik der Band Gabriels. So ergeben sich immer wieder unterschiedliche Konstellationen, Formationen und Begegnungen. Kratz selbst spricht zurecht von „einer Poetik des Angedeuteten“. Am deutlichsten wird dies am Ende von „To get to become“, wenn Severin Brunhuber und Raúl Ferreira sich mit eindrucksvoller Präsenz wie zwei Boxer oder Sportler vor einem Degenduell mit stoßweise hervorgebrachtem Atem gegenüberstehen und unklar bleibt, wie sich diese Spannung entladen wird. Was bei Özkan Ayik allzu unbestimmt bleibt, gerät bei Kratz intensiv und kurzweilig.
Werden bei ihm Geschichten höchstens dezent angedeutet, so erzählt Jonah Cook in „Played“, dem mittleren der drei Stücke, konkret von den Freuden und Leiden der Liebe. Zwei Paare (Jonah Cook selbst zusammen mit Ksenia Ryzhkova sowie Bianca Teixeira und Florian Ulrich Sollfrank) durchlaufen sozusagen verschiedene Beziehungsstadien: Verliebtheit, Streit, Trennung, neue Partnerschaft. Dafür findet Jonah Cook, der seit vielen Jahren als Solist beim Bayerischen Staatsballett tanzt, in seiner ersten Choreographie überzeugende Bewegungsabläufe und stimmige Ausdrücke, leicht und elegant im Zusammenspiel mit Ksenia Ryzhkova, später aggressiv, fast kämpferisch in der Auseinandersetzung. Hinzu kommt, dass Cook seinem Stück einen größeren Rahmen verleiht: auf der sonst nackten Bühne ist ein weißes Quadrat als Spielfläche ausgelegt, auf der die Dramen des (Liebes-)Lebens stattfinden. Menschen treten auf und treten ab. Zu den beiden Paaren gesellt sich Alexei Dobikov, der gleich zu Beginn vom Zuschauerraum aus auf die Bühne stolpert und dann als eine Art von Beobachter fungiert. Am Ende verschwinden sie alle durch die rückwärtige Bühnenwand und lassen die Türe krachend ins Schloss fallen. Im Programmbuch hat sich Jonah Cook nicht zu seiner Arbeit geäußert. Stattdessen ist ein Zitat aus Shakespeares Macbeth abgedruckt: „Life’s but a walking shadow (…). It is a tale told by an idiot, full of sound and fury, signifying nothing.“ Stimmt schon – trifft auf „Played“ aber glücklicherweise nicht zu.