Hier wird’s Ereignis
Kirill Petrenko dirigiert Gustav Mahlers 8. Symphonie
München, 11. Oktober 2023, Christian Gohlke

Gustav Mahler hat immer wieder darauf hingewiesen, dass ihn bei der Entstehung seiner achten Symphonie, die er selbst als sein Hauptwerk ansah, „der spiritus creator“ gleichsam gepackt und so lange in seiner Gewalt behalten habe, „bis das Größte fertig war“. Die Niederschrift dieses Opus summum sei vonstatten gegangen wie ein Diktat; das „Empfangene“ habe nur noch zu Papier gebracht werden müssen – und tatsächlich kam der Komponist mit der Arbeit an diesem Mammut-Werk ungewöhnlich zügig voran. Die Uraufführung am 12. September 1910 in München war ein Ereignis sondergleichen: „So was hat die Welt bis jetzt noch nicht erlebt“, kommentierte Mahler, der sein Werk selbst dirigierte. Die Resonanz war gewaltig, wie zum Beispiel ein Dankschreiben von Thomas Mann eindrücklich zeigt, der glaubte, dass sich im Komponisten „der ernsteste und heiligste künstlerische Wille unserer Zeit“ verkörpere. In der Tat: Mahlers Anliegen war gewaltig. Nichts weniger als „ein Gleichnis der Welt in Tönen“ wollte er erschaffen. Dazu verband er zwei Texte miteinander, die zunächst völlig heterogen erscheinen – und doch durch ein gemeinsames Thema verbunden sind. Der Pfingsthymnus „Veni, creator spiritus!“ ist nämlich genau wie die „Bergschluchtenszene“ aus Goethes „Faust II“ vom Gedanken der Liebe getragen. Sie ist es, die ein Schöpfergeist in unsere Herzen gießt, und sie ist es auch, die uns zuletzt als das „Ewig-Weibliche“ in höhere Sphären hinan zieht. Musikalisch sind beide Teile des Werkes eng miteinander verbunden, erweist sich die Goethe-Vertonung über weite Strecken doch geradezu als Metamorphose des sogenannten Liebes-Themas, das im Pfingsthymnus zunächst erklingt: „Accende lumen sensibus. Infuende amorem cordibus.“ (Entzünde dein Licht unseren Sinnen, / Ströme die Liebe ein in unsere Herzen.)

Man mag den Anspruch, den Mahler mit seiner Symphonie erhebt, heute ein wenig anmaßend oder auch überholt finden, zumal die gigantische Besetzung mit mehreren hundert Musikern dem gründerzeitlichen Größenwahn ihrer Entstehungszeit durchaus verhaftet erscheint. Wenn aber ein Dirigent wie Kirill Petrenko sich des Werkes annimmt, erscheint diese Musik weniger als Ausdruck spätromantischen Pomps, sondern viel eher als zum Teil recht schroff und herb tönende, vor allem aber verinnerlichte Musik der Moderne. Petrenko, von 2013 bis 2020 Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper, ist anlässlich des 500. Geburtstags des Staatsorchesters für drei Konzerte aus Berlin nach München zurückgekehrt und wurde für seine stringente Interpretation stürmisch gefeiert. Unter seiner ungemein präzisen und auf Klarheit bedachten Leitung agierten die Musiker des Bayerischen Staatsorchesters, die drei beteiligten Chöre (Staatsopernchor, einstudiert von Johannes Knecht, Staatschor Latvija, einstudiert von Maris Sirmais und der Tölzer Knabenchor, einstudiert von Christian Fliegner) sowie das exquisite und klanglich fein aufeinander abgestimmte Oktett der Solisten in Bestform: Hier wurde mit Hingabe und äußerster Konzentration musiziert.

Erst zart, fast zögerlich, dann aber mit gewaltigem Nachdruck intonierten die Chöre das zentrale Thema des ersten Teiles, der in Petrenkos Lesart mit einem harten, fast schroff anmutenden Schluss-Akkord weniger ausklingt als vielmehr abreißt. Nach einer langen Pause der Sammlung, in der sich der Maestro wieder und wieder den Schweiß von der Stirne wischte, begann der zweite Teil geheimnisvoll und atmosphärisch dicht: Ein hohes Geigentremolo wie feines Wispern an der Grenze der Hörbarkeit, akzentuiert vom markanten Pizzikato der tiefen Streicher, worüber sich sprechend die Melodien der Holzbläser erheben, bis wie aus weiter Ferne, tastend und zögerlich, gleichsam onomatopoetisch der Chor einsetzt: „Waldung, sie schwankt heran, / Felsen, sie lasten dran“. Warm und homogen ist dann vom „Heiligen Liebesort“ die Rede, dem man sich hier annähert. Vorbildlich textverständlich kündet auch Georg Zeppenfeld mit seinem kraftvollen Bass als Pater Profundus von der allmächtgen Liebe, „die alles bildet, alles hegt“ und die auch von Doctor Marianus (Benjamin Bruns mit klar geführtem, stählernem Tenor) als „Jungfrau“, „Mutter“, „Königin“ gepriesen wird. Wie Fausts Unsterbliches sich „jedem Erdenbande“ entrafft, erfährt Gretchen, und Johanni von Oostrum verleiht ihr mit hellem Timbre eine anrührend jugendliche Anmut. Zart, behutsam, aber doch mit leuchtender Strahlkraft hebt der Chorus Mysticus im Pianissimo zur Apotheose des ganzen Werkes an: „Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis“, bis zuletzt das „Accende“-Thema im Tutti noch einmal als Hauptgedanke der Symphonie in einer großangelegten Steigerung triumphal erklingt: „Das Unbeschreibliche, / Hier ist’s getan; / Das Ewig-Weibliche / Zieht uns hinan!“ Wohl dem, der daran auch in diesen Zeiten glauben kann. Für 90 Minuten wurde das Unbeschreibliche bei Kirill Petrenko tatsächlich zum Ereignis.