Hitlers „Mein Kampf“
Bericht über ein Buch, Dezember 1966
München, 4. Oktober 2023, Werner Fischer

In diesen Wochen las ich ein Buch, das überall genannt wird, aber so gut wie verschollen ist; ein millionenschwerer Bestseller ehedem, aber selten gelesen; in deutschen Bücherschränken einst kaum weniger verbreitet als die Bibel, aber eine pechschwarze Gegenbibel. Ein grollender junger Mann hat das verfasst mit Zähneknirschen, und zähneknirschend liest man’s wieder. Er stammte aus dem Österreichischen, nannte sich Hitler, und sein Opus nannte er „Mein Kampf“.

Das Buch zu lesen, darf eine Leistung heißen; es bis zur letzten Seite zu lesen, kam mir fast wie Selbstaufgabe vor. Nicht als ob der literarische Anspruch des Autors den Zugang zu seinen Gedanken mühselig machte, das gewiss nicht. Diese Gedanken, wenn wir sie einmal so ungenau bezeichnen wollen, sind, mit Goethe zu sprechen, „getretner Quark“, ausgelaugt durch endlose Wiederholung und ohne jedes Aroma von Originalität. Aber was für eine Stimme bellt uns da an, wenn wir über achthundert Seiten hin durch diese geistige Steppe irren! Das ist ein verdorbenes Organ, das uns im hysterischen Fortissimo jahrmarktpathetisch in die Seele lärmt. Taumelnd liest man das, halbtaub und von Brechreiz gepeinigt, mit einer Gasmaske überm Gemüt, sozusagen.

Welches Profil, welches Gesicht tritt nun aus diesen wüsten Seiten hervor? Kein Gesicht – ein patriotisch hohes Heldenhaupt, retuschiert bis zum Ausdrucksvakuum des Mannequins, ein rosig verklärter, blonder, blaublickender Plakat-Kitsch, ein Spießer in Denkmalspose – kein Gesicht. Was für ein Gesicht hatte dann der, der das hinschrieb? Ein ganz durchschnittliches, unbedeutend-schlaffes, beinahe keines, das eines beliebigen jungen Menschen aus dem Kleinbürgerstande, von keiner erkennbaren Begabung gezeichnet, ausgenommen der einen fatalen, rattenfängerischen, derer er mit den Jahren allmählich gewahr wurde.

Vorzeitig hatte er die Realschule verlassen, seiner künstlerischen Berufung euphorisch sicher. Aber die Welt teilte seine Selbstgewissheit nicht, verweigerte ihm bereits die Aufnahme in die Kunstakademie. Vier Jahre stand er draußen vor der Tür zur Welt, der Bauhilfsarbeiter, Postkartenpinsler, mit dem Schwelbrand von Ehrgeiz in seiner dumpfen, gärenden Seele. Weithin zu wirken – das muss schon damals sein ohnmächtiger Traum gewesen sein. Er hatte, trostlos zu sagen, nur den Drang, nicht die Fähigkeit dazu, mindestens nicht im Rahmen eines bürgerlichen Lebens. Aus dem schlimmen Blickwinkel des Obdachlosenasyls, in dem er, aus welchen Gründen immer, längere Zeit hindurch Unterschlupf fand, sah er die Welt. Sicherlich sieht es dann ohnehin böse genug mit ihr aus. Und er machte sie noch böser; auf seiner Palette gab es nur Schwarz.

Er war wach und witternd argwöhnisch, dabei kläglich unorientiert, und wollte sich bilden. Er bildete sich aus Argwohn, um die Welt zu entlarven, gleich die ganze Welt. Er las, man weiß es, mit der Ratlosigkeit des Autodidakten und ebenso unersättlich, dies und jenes, vielerlei: Traktate, Populärwissenschaftliches, Pseudowissenschaftliches, abgestandene Hypothesen, von provinziellen Geistern kleingekaut und verhunzt. Das las er gierig, rachedürstend, und in ihm begann zu wachsen, was man, übrigens mit jedem Jahrzehnt lügenhafter, ein Weltbild nennt. Sein Bild von der Welt war kaum eine Karikatur zu nennen, aber für ihn war die Welt ja ohnehin nur noch eine semitische Fratze, und die glaubte er endlich erkannt, durchschaut zu haben. Dieses ganze unübersichtliche Leben, die verwirrende Vielschichtigkeit der Welt, die schwieriger wird von Tag zu Tag, dieses nebelige, niederträchtige Labyrinth – er hatte das Tor gefunden, das da herausführte ins Freie; er hatte den Schlüssel, der alles erschloss, der junge Gelegenheitsarbeiter im Männerheim im Habsburger Vorkriegswien.

Der Schlüssel hieß „Jude“ und erklärte schlechterdings jede Gemeinheit, jede Verderbnis, jedes Unheil auf Erden. Es stand schlecht um Sitte und Anstand in der Großstadt? Der Jude war es, der sie verdarb, kühl und zielbewusst! Man war dem teuren deutschen Vaterlande gram in Europa? Aber der Jude brachte systematisch die Welt dagegen auf! Es war abwärts gegangen schon mit so mancher Kultur in der Geschichte? Nun, der Jude hatte sein minderes Blut listig unter das kostbare arische gemischt und durch solche „Bastardierung“ dieser Kultur das Licht ausgeblasen. Der Jude, der Jude – er hatte den Schlüssel, und er wollte ihn schwenken vor seinem Volk. Der Schlüssel war glatt und griffig, ein Faustkeil, eine Waffe. Jeder konnte sehen: das ist ein Schlüssel. Ein klarer Umriss; und hassen kann jeder, beinahe jeder. Hass ist die einfachste Reaktion auf die Schwierigkeit der Welt, die faulste, phantasieloseste, unerlaubteste.

Da kam der Krieg, ein Schnitt mitten durch das Leben Europas. Aber bei dem armseligen Grübler in Wien gab es nicht viel abzuschneiden: keine Karriere, keine Sicherheit der Existenz, kein irgendwie positives Verhältnis zum Dasein. Er muss den Krieg als Wohltat empfunden haben, denn der gab seinem amorphen Hass fürs erste doch eine klare Stoßrichtung. Und als der Krieg zu Ende ging und der gemeinsame Hass versickerte, da kam es dann über ihn: Er „beschloß, Politiker zu werden“. Übrigens findet sich in „Mein Kampf“ eine Schilderung dieser fatalen Konversion: dramaturgisch so aufwendig, dass sich daneben etwa die gewiss nicht langweilige Bekehrungsszene in den „Bekenntnissen“ des heiligen Augustinus liest wie ein Fahrplan.

An seiner giftigen Einsicht sollte die Welt genesen, mindestens soweit sie sich arisch nennen durfte. Und für die anderen, die rassischen Schmutzfinken, das Blutgesindel hielt er auch eine Lösung bereit – „Endlösung“ hieß das, recht exakt, nach ein paar Jahren.

In München, das damals von nationalistischem und sowjetkommunistischem Wechselfieber geschüttelt wurde, knetete er sich nach und nach seine Partei zurecht, die auf seine Dogmen eingeschworen war: die NSDAP, seine ideologischen Boxhandschuhe, mit dem Schlagring der SA. Unversehens war seine Gemeinde dem Schankstübchen entwachsen, machte von sich reden, mietete und füllte Säle von Zirkusformat.

Damals glaubte der Vierunddreißigjährige, seine Zeit sei schon gekommen: 1923 versuchte er sich, dilettantisch genug, in einem Putsch, wollte den Rubicon überspringen, als sei er ein Rinnsal. Er fiel ins Wasser, für diesmal; die Republik war noch einmal davongekommen. Eine unreife Unternehmung – der etablierte Cäsar wird sie später als Jugendtorheit belächelt haben. Daraufhin tat ihn die Republik denn doch für eine Weile in die Festung. Vorm Gitterfenster schrieb der schnurrbärtige Märtyrer, mindestens zu großen Teilen, das Buch, das ich Ihnen heute vorstelle. Solchen Stilübungen verdankte es die Welt, dass sie Hitlers Podiumstiraden, nunmehr zum Programm artikuliert, lesen und prüfen konnte. Beinahe zehn Jahre hatte sie Zeit dafür – sie hat geringen Gebrauch davon gemacht.

Ich sagte es schon: Das Buch, für sich genommen, ist miserabel. Sein Stil ist Unnatur, seine Disposition Chaos, seine Denkbewegung zuckender Krampf – ein hingesudeltes Machwerk, tönern, stelzend, eine Zumutung gleichermaßen für Hirn und Herz. Aber man kann dergleichen Bücher nicht für sich nehmen, sie als bloß literarische Erscheinung feiern oder verdammen. Es hat vielmehr einen eigenen makabren Reiz, solches Buch zu lesen, dessen mindere literarische und geistige Qualitäten im grellsten Gegensatz zu seiner weltverändernden Bedeutung stehen. Hier zuerst begegnet uns der Stil, der dann eine ganze Zeit – ich mag sie nicht Epoche nennen – sprachlich und faktisch geprägt hat.

Hitlers Buch gibt sich, so meine ich, als Produkt der Gefängniszelle klar zu erkennen. Oder: Es konnte nur in der Zelle oder doch da am besten geschrieben werden. Ein Mammut-Monolog tönt dem, der das lesen will, ins Gesicht; nirgends spürt er, auch nur ansatzweise, den Versuch des Autors, den Leser in ein Gespräch einzuspinnen, ihn im fiktiven Dialog sanfter zu überreden. Stattdessen erwürgt apodiktisches Behaupten jeden Zweifel und erschlägt jede Frage. Niemand hat dem in seiner Festungsklause widersprochen, sein missionarisches Delirium abgekühlt. Es ist ein Buch der Einsamkeit geworden, nicht fernöstlicher, eremitischer, philosophischer Einsamkeit, sondern der verstörten Einsamkeit des Asozialen.

Man fragt mich mittlerweile mit Nachdruck, was es auf diesem knappen Tausend Seiten denn nun eigentlich der Ordnung und Reihe nach zu lesen und nachzudenken gebe. Sicherlich, es ist in dem Buche von dem und jenem die Rede: von Außenpolitik, den Gewerkschaften, der öffentlichen Moral, der Propaganda, vom Staat, vom Parlamentarismus, von tausend Dingen sonst. Überfliegt man im Inhaltsverzeichnis die lichtvollen Kapitelüberschriften, dann erhofft man sich sogar einen gewissen gegliederten Aufbau der Ausführungen. Bei der Lektüre selbst freilich findet man nurmehr ein wildwucherndes Assoziieren ohne alle Proportion: Das Beiläufige, nur Anekdotische verfließt mit dem Grundsätzlichen; theoretische Kritik wird unversehens zur anschaulichsten Schimpfkanonade; Länge und gedanklicher Stellenwert seiner Betrachtungen stehen in einem oft krassen Missverhältnis. Das Ganze bietet sich als trübe Mischung autobiographischer, pseudowissenschaftlicher, kulturkritischer, massenpsychologischer Partien.

Wovon also redet er? Davon, beispielsweise, dass man eine müßige Jugend – er spricht gern von Menschenmaterial – nicht auf Straßen und in Kinos verwahrlosen lassen dürfe. Die müsse vielmehr nach ihrem „Tageswerk den jungen Leib stählen und hart machen.“ Es sei „mit der Vorstellung aufzuräumen, als ob die Behandlung seines Körpers jedes einzelnen Sache selber wäre.“ Verschwommene Träume von einem verlorenen Paradies names Sparta mischen sich da mit der einstweilen noch embryonalen (übrigens recht praktischen) Idee eines Arbeitsdienstes. Aber den letzten Sinn solcher Leibesdisziplin enthüllt Hitler erst im folgenden. Jeder, so vernimmt man, habe die „Pflicht der Erhaltung der Rasse“, und die müsse jedenfalls von einer Jugend, „hart wie Kruppstahl“, fortgepflanzt werden. Nachdem man betroffen zurückgeblättert und sich vergewissert hat, dass hier tatsächlich von der Zukunft unseres Volkes die Rede war und nicht vielmehr vom Gedeihen eines Trakehnergestüts, erfährt man, dass es eine giftige Gefahr gebe, die unserem adligen Blute drohe. Der Verfasser malt sie aus in pornographischer Anschaulichkeit: „Der schwarzhaarige Judenjunge lauert stundenlang, satanische Freude in seinem Gesicht, auf das ahnungslose Mädchen, das er mit seinem Blute schändet (…). So versucht er planmäßig, das Rassenniveau durch eine dauernde Vergiftung der einzelnen zu senken.“ – Hier ist wahrhaftig Beelzebub in jeden nichtarischen Eckensteher gefahren, und dessen simple Samstagsnachmittagsverliebtheit erweist sich als finstere Tarnung des Anti-Siegfried, ist in Wahrheit nichts als ein Molekül in der ruinösen Weltstrategie der zionistischen Internationale.

Man liest das mit Frösteln; man denkt an eine Zeit, jenes braune Jahrdutzend, als gegen solche Verliebtheit mit Giftgas eingeschritten wurde, weil ein infantiles, verruchtes Gestammel sich als Dogma, als Weisheit des Weltgeistes ausgeben durfte.

Wollen Sie mehr hören? Sie wollen nicht? Hören Sie mehr! Der einstige Putschist lässt seiner Verachtung für Demokratie, Parlamentarismus, Wahl und Majorität freien Lauf. Eine machtvolle Persönlichkeit, ein Führer tue unendlich not; er müsse das deutsche Volk herausheben aus dem Sumpf des Parlamentarismus, „dieser verantwortungslosesten Einrichtung aller Zeiten.“ Ein Führer – man darf vermuten, dass der Verfasser dessen Namen schon kennt. Der werde für seine Handlungen auch persönlich die Verantwortung übernehmen. Denn wer stets nach Deckung suche – etwa der Deckung eines Parlaments –, der, so meint Hitler in seiner pubertär undifferenzierten Sprache, sei „ein feiger Lump“. Nun, er seinerseits hat sich nicht gescheut, Verantwortung zu übernehmen. Er war radikal darin wie in allem. Er hat viel mehr davon übernommen, als ihm das deutsche Volk 1933 allenfalls zumuten wollte. Zuletzt hat er sogar die Verantwortung für den Untergang dieses Volkes übernommen.

Ein aufschlussreiches Buch, eine schwefelgelbe Wetterwolke von Buch. Aber wer hat sie gesehen? Es steht mehr darin. Es steht darin, wo das „Volk ohne Raum“ diesen Raum zu suchen und zu erkämpfen habe: im russischen Osten. Es steht darin, dass es ein förderungsunwürdiges Leben gebe, das durch Sterilisierung an der Fortpflanzung zu hindern sei. Das Schlüsselwort von der Ausrottung steht darin, alles, alles, das ganze Programm. Und alles wurde bare Wirklichkeit. Wo gibt es – so darf man fragen – in diesem ganzen Jahrhundert den Menschen, dessen Blüten-Alpträume so ausnahmslos reiften? Und ein ganzes Volk – dieses Volk – war nötig, sie reifen zu lassen.

Sie wissen oder ahnen nun, was der verkrüppelte Österreicher da geschrieben hat. Wie er schrieb, welche Sprache er führte, auf welchem Niveau er zu überzeugen wünschte, das zu erkennen, werden Sie weniger Beispiele bedürfen. Eines für viele; es zeigt Hitlers polemischen Stil, der ja stets ein besonders klares Indiz dafür ist. Übrigens wäre es schwer, andere als polemische Stilproben zu bieten, da beinahe das ganze Buch Polemik ist: eine Gossen- und Gully-Polemik, mit der er die Welt in Bausch und Bogen auf die Hörner nimmt. Zuerst muss die zerstampft sein, bevor der Autor auf solch schwarzem Grunde seine helle Heilslehre präsentieren kann: jene ideologische Quacksalberei eines vulgärdarwinistischen Rassenkampfes ums völkische Dasein.

Ein Hauptfeind, ein brandrotes Tuch, das er immer neu annimmt, ist ihm dabei die Demokratie samt Parlament und Parlamentariern. Diese nun nennt er nacheinander parlamentarische „Parteilumpen, Verbrecher, Volksbetrüger, Strauchdiebe, Zuhälter“, nicht ohne hinzuzufügen, dass „diesen Verrätern an der Nation gegenüber (…) jeder Zuhälter noch ein Ehrenmann“ sei. An anderer Stelle scheinen ihm exotisch-sakrale Vorstellungen vorzuschweben, wenn er von „parlamentarischen Medizinmännern und Zauberpriestern“ spricht. Mit schlichterer Assoziation nennt er sie dann wieder „Parlamentswanzen“, „Gipsköpfe“ oder einfach „Gänseriche“, „Gelichter, „Parteipack“, das – mindestens 1918 – „reif für den Strick“ gewesen sei. – Nach solcher Probe hat man wohl das Timbre der Stimme im Ohr.

Vielleicht verwundert es nun, wenn ich danach noch von Hitlers Argumentation und Beweisführung rede. Auch darin nämlich entwickelt der Verfasser hier und da einigen Ehrgeiz. Zwar pflegt er seine wesentlichen Behauptungen mit geradezu verstörender Unverfrorenheit aus der Luft zu greifen. So versagt er sich etwa jeden Beweis für die Haupttheorie seines Rassismus, der vielmehr als Axiom nur so über den Wassern schwebt; aber im Einzelnen, Kleinen, Nebensächlichen kommt er dem Leser schon einmal mit Logik, dann stets mit der buchstabierenden Eindringlichkeit des Klippschulpädagogen. Alltäglichkeiten, die in ihrer Banalität sich selbst erklären, werden durch Analogien, Gleichnisse, Beispiele nochmals und nochmals illuminiert. Dass man politische Schäden erst heilen könne, wenn ihre Ursache bekannt sei, das scheint für sich allein nicht einzuleuchten, so dass noch der erhellende Vergleich von Krankheit und Krankheitserreger herangezogen werden muss. Dass es beim Bücherlesen darauf ankomme, jeweils das Wesentliche zu erfassen, das zählt zwar jeder Volksschüler zu seinen elementaren Erfahrungen, aber unser Praeceptor Germaniae lässt sich auch darüber ganze preziöse Seiten lang aus.

Banal ist diese Sprache selbst, verstaubte Dutzendware in der Abgegriffenheit ihrer Adjektive, dem Pleonasmus ihrer Verbindungen, der Hochstapelei ihrer Superlative, der pauschalen Dürre ihrer Redensarten, in ihren hölzernen Bonmots, ihrer pathetischen Verquollenheit.

Man kann oder muss da lesen von einer „unruhigen Beklommenheit“, „bangen Gedrücktheit“, „listigen Verschlagenheit“, „heldischen Tugend“ oder von einem „zornigen Hass“, „blutigen Kampf“, „unerschütterlichen Entschluß“. Da ist sich eine Überzeugung niemals selbst genug, es sei denn, sie wäre „heilig“ oder wenigstens „felsenfest“. Dass ein Betrug infam sei, sagt bei weitem zu wenig über ihn. Er wird zum „infamsten Betrug“, nein zum „infamsten Betrug aller Zeiten“. Mit der entschiedenen Bündelung „aller Zeiten“ wird übrigens noch so mancher Superlativ aufgestockt. So ernennt der Verfasser einen seiner Anhänger zum „größten Bürgermeister aller Zeiten“. „Ewig“ ist wohl eine verhältnismäßig kurze Zeit, im Vergleich mit „urewig“. „Die Faust des Schicksals“ sitzt dem Häftling am Schreibpult ganze Kapitel lang im Nacken; er singt und sagt von der Not, die ihn „in ihre herzlosen Arme schloß“. Über die Natur gibt er zu Protokoll, sie sei „die grausame Königin aller Weisheit“. Genug oder schon zuviel. Man sieht, in diesem literarischen Wachsfigurenkabinett kann jeder Tertianer das stilistische Fürchten lernen.

Wichtiger aber und informativer ist es, die dominierenden, stets wiederkehrenden Vokabeln des Buches zu kennen, Hitlers verbale Lieblingskinder. Nicht von solchen ist hier die Rede, deren sachliche Verwendung die Materie selbst erzwingt, sondern von den schwebenden, koloristischen, emotional vibrierenden, die aus dem psychischen Grunde des Autors kommen. Da gibt es vor allem drei, die er hartnäckig begünstigt. Es sind die Adjektive „brutal“, „fanatisch“, „rücksichtslos“. Schon ihre Häufung erstaunt den Leser; zum Befremden aber und sehr bald zum Ekel wird sein Erstaunen, wenn er dem jeweiligen Kontext entnehmen muss, dass sie eigentlich durchweg ein positives Vorzeichen setzen, eine Eigenschaft, einen Tatbestand erhöhen, verklären sollen. In diesem Buche wird etwa ein Angriff „mutig und brutal“ genannt oder eine Einstellung als „fanatisch einseitig“ gefeiert. Oder der Verfasser vereinigt sogar zwei seiner Wortfavoriten in stilistischer Inzucht, indem er einmal von „rücksichtsloser Brutalität“ und dann wieder von „brutalster Rücksichtslosigkeit“ redet. Und diese Wörter stehen nicht einfach da, sie spreizen sich im Text mit widerwärtigem Nachdruck, enthüllen eine perverse Faszination durch das Grausam-Brutale, wie ihr wohl am ehesten der Schwächling, der Mann der körperlichen und seelischen Blutarmut verfällt. Immer wieder stößt er diese Wörter hervor, sielt sich darin, peitscht sich auf damit, möchte gar nichts anderes sein als das: rücksichtslos, fanatisch, brutal. Unter den unappetitlichen Stellen des Buches sind dies die ärgsten: Man glaubt den Schaum vor diesem Munde zu sehen.

Eine andere Gruppe von Wörtern – ich möchte sie die „Gänsefüßchenvokabeln“ nennen – fasst unser Literat stets mit spitzen Fingern an, verätzt sie mit seinem Hohn, präsentiert sie seinen Lesern nur durch das ironische Filter eines „sogenannt“. Solcherart distanziert er sich besonders von den Begriffen „Pressefreiheit“, „Humanität“, „Verstand“ und „Objektivität“. Dabei lässt er den Leser nicht einmal ohne belebenden Ausdruckswechsel und tauscht gelegentlich etwa die ein wenig dürre Wendung von der „sogenannten Objektivität“ aus gegen die bedeutend prallere vom „Objektivitätsfimmel“. Die Intelligenz führt er überhaupt nur als „sogenannte Intelligenz“ im Munde, mit der einen trübseligen Ausnahme, als er einmal von der „toten Intelligenz“ redet, der im Krieg gefallenen nämlich. Er muss wohl schon damals zu ihr ein spannungsreiches Verhältnis unterhalten haben

Ein Begriff aber ist in dem Buche, ein Bereich, der immer neu umschlichen, abgetastet, gierig betrachtet wird mit der Gravitation eines existentiellen Interesses. Er heißt Propaganda und Massenpsychologie, Demagogie, suggestive Überredung. Hier erweist sich unser Autor einmal nicht als der linkische Eleve, der biologische oder volkswirtschaftliche Thesen minderen Ranges nur nachstammelt. Es kommt sogar eine sinistre Intuition über ihn und seine Feder. Tief und instinktsicher ist er informiert über die dubiose Kunst, die Wahrheit zu biegen nach Wunsch und Ermessen, sie mit der Lüge zu verkneten, sie einzuspeicheln und dem Schlunde des Volkes schluckbar zu machen. Das Volk, so hält er sich überzeugt, wolle sein Maul nicht allzuweit auftun für diesen sperrigen Brocken „Wahrheit“ und könne ihn ohne das Ferment propagandistischer Vereinfachung auch gar nicht verdauen. Ihm ist sogar gewiss, „dass durch kluge und dauernde Anwendung der Propaganda einem Volke selbst der Himmel als Hölle vorgemacht werden kann und umgekehrt das elendste Leben als Paradies.“ Solche Feststellungen trifft er nicht etwa in der Tonlage elegischer Betrachtsamkeit oder verbände sie gar mit der Verpflichtung für den Politiker, aus solcher Einsicht nur desto verantwortlicher zu reden und zu handeln. Vielmehr spricht daraus der triste Triumph dessen, den diese Überzeugung in Tatlaune versetzt, der sich gar keinen Zaun wünscht um einen so trüben Teich, der lieber darin fischen möchte. Die Aufgabe der Propaganda sei es – so verschärft er noch seine Aussage –, „eine Lehre dem ganzen Volke aufzuzwingen, es „im Sinne einer Idee“ zu „bearbeiten“, es dafür „reif zu machen“. Solche Ausdrücke bezeichnen eher eine hypnotisch unterschwellige Einflussnahme als helles Überzeugen durch vernünftiges Gespräch im Für und Wider der Argumente. Und nochmals stellt der Leser betroffen und angewidert fest, dass er solche Herausforderung nicht erst zwischen den Zeilen suchen muss. Die sind nicht nur fahler Hintergrund, nur leise Obertöne, sie stehen da, Wort für Wort, in ostentativem Sperrdruck, wollen als Maxime, als Programm genommen werden. Auch sie sind hingeschrieben mit der pathologischen Wollust dessen, der das nicht nur tun, der noch davon reden muss in berauschtem Monolog. Die Masse, so verkündet der illegitime Jünger Nietzsches, „ist nicht empfänglich für alles Halbe und Schwache (…). Gleich dem Weibe“ beugt sie sich „lieber dem Starken.“

Der wollte er sein, der Rattenfänger auf seinem Rednerpodium, der meinte, am Abend nachhaltiger überreden zu können als bei Tageslicht, der in drei Stunden rhetorischen Schlammringens einen Saal zu verwandeln wusste in ein gärendes, brodelndes Fass fanatischer Ressentiments, der schwarzhaarig, in seiner schlaffen, eher asthenischen Körperlichkeit urgermanische Größe beschwor und die Grausamkeit der Natur hysterisch feierte, der den Dschungel zum Modell erhob für eine angeblich allzu domestizierte Gesellschaft, der hunderttausend Kleinbürger zu Aristokraten der Rasse ernannte, das miese Mittelmaß zur Krone einer arischen Schöpfung.

Als ich diese Stimme hörte, da tönte sie längst aus allen Lautsprechern, und unser verführtes, leichtfertiges, geängstetes, gemartertes Volk saß vor seinem „Volksempfänger“ und horchte darauf wie auf ein Unwetter. Es war eine fahle Stimme, grollend, mit schicksalsträchtigem Vibrato, mit forcierter Imperatoren-Knappheit, röhrend von ihrem Selbstbewusstsein, heiser von zerschmetternder Wut – eine Stimme, die die Lautsprecher verdarb.

Eine Morgenfeier, gehalten im Dezember 1966 an der Humboldt-Schule in Kiel