An einem strahlenden Sonntagnachmittag strömt ein festlich gekleidetes Publikum in das Mailänder Opernhaus La Scala, das in den Jahren 1796 bis 1798 vom italienischen Architekten Giuseppe Piermarini errichtet wurde und noch heute, nach der Bombardierung 1943 wieder aufgebaut, in klassizistischer Schlichtheit im Herzen Mailands steht. Allerdings hat im Jahr 2002 der Schweizer Stararchitekt Mario Botta zwei Neubauten dem historischen Gebäude hinzugefügt, die nötig waren, um den heutigen Anforderungen gerecht zu werden.
Auf dem Programm steht Vincenzo Bellinis Oper „I Capuleti e i Montecchi“, Oper in zwei Akten, 1830 in nur fünf Wochen komponiert. Dies war möglich, weil Bellini weite Teile einer früheren, misslungenen Oper („Zaira“) übernehmen konnte. „I Capuleti e i Montecchi“ wurde im März 1830 in Venedig uraufgeführt und war sofort ein großer Erfolg. Die Oper markiert einen Wendepunkt in Bellinis Schaffen, indem sie das Ende der Werke seiner Frühzeit darstellt und den Weg ebnet für die berühmten Opern, die in den wenigen verbleibenden Jahren bis zum Tod des Komponisten 1835 noch entstehen sollten. Der Stoff beruht auf einer Novelle aus dem 15. Jahrhundert und ist in Siena angesiedelt. 1531 wird die Erzählung von Luigi da Porto nach Verona verlagert. William Shakespeare veröffentlicht seine berühmte Tragödie erst im Jahr 1597. Die beiden frühen Texte stellen den literarischen Hintergrund für die Arbeit des Librettisten Felice Romani dar, dem die italienische Übersetzung des Shakespearschen Textes unbekannt gewesen sein soll.
Wie aus dem Titel hervorgeht, verlagert der Librettist den Schwerpunkt der Handlung auf zwei Familien aus Verona, die aufgrund der politischen Begebenheiten des 13. Jahrhunderts (Guelfen gegen Ghibellinen) den zwei gegensätzlichen Fraktionen angehören und deren Kinder sich ineinander verlieben. Mit dem Bühnenbild des ersten Aktes stellt der englische Regisseur Adrian Noble in seiner Neuinszenierung, die am 18. Januar Premiere hatte, den Bezug zur Gegenwart dar. Die monumentalen Bauwerke (Bühne: Tobias Hoheisel) erinnern an die strenge italienische Architektur der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, den sogenannten Novecento. Die politischen Gegner werden vom Chor verkörpert. Die Sänger tragen allesamt klassische Anzüge und Mundschutz (wegen der gegenwärtigen italienischen Bestimmungen), was aber ihrem Klang keinen Abbruch tut. Schon seit Jahren ist der Chor der Scala unter der Leitung des Direktors Alberto Malazzi eine exzellente Konstante im Mailänder Operngeschehen.
Während die Auftritte der großen italienischen Interpreten und Interpretinnen der fünfziger und sechziger Jahre unvergessen bleiben, verpflichtet die Scala mittlerweile Sänger aus aller Herren Ländern. Unter den fünf Hauptdarstellern ist nur ein Italiener, die anderen vier stammen aus Amerika, Frankreich, Korea und China, sind aber allesamt im italienischen Belcanto zu Hause. Die ersten Arien von Giulietta (Lisette Oropesa) und Romeo (Marianne Crebassa) werden vom Publikum mit stürmischem Beifall bedankt, und aus der berüchtigten Loggione (Stehplätze unter dem Dach) ertönen Bravo-Rufe (eine Mailänder Spezialität).
Im zweiten Akt steht das Schicksal der beiden Liebenden im Vordergrund. Beide Interpretinnen können auf eine lange internationale Karriere zurückblicken, und ihre Erfahrung reicht von Opern des Barock bis zu Werken des späten 19. Jahrhunderts. Aber es ist Bellinis zauberhaftes Belcanto, in dem ihr Talent und ihre stimmliche Kraft am stärksten zum Ausdruck kommt. So ist zum Beispiel Romeos Klagelied am Sarg Giuliettas von höchster dramatischer und lyrischer Qualität. Die drei männlichen Sänger (Jongmin Park, Jinxu Xiahou und Michele Pertusi) erfüllen ihre Aufgabe mit der erforderlichen Präzision und mit eindrucksvoller Bühnenpräsenz.
Ein besonderes Lob verdient die Dirigentin Speranza Scappucci, gebürtige Römerin, die im letzten Moment für den ursprünglich vorgesehenen Evelino Pidò eingesprungen ist. Mit ihrer eleganten Gestik versteht sie es, Sänger und Orchester zusammenzuhalten.
Das Publikum belohnt alle Beteiligten mit großzügigem Applaus und mehreren Vorhängen. Alles in allem eine gelungene Vorstellung, deren musikalischer Zauber noch lange nachklingt.