Hugo von Hofmannsthal wollte zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit seinem dramatischen Schaffen erproben, ob ein Theater möglich sei, „das in seinen Intensionen hinter das ganze XIX. ja hinter das XVIII. zurückgeht“. Zu diesem Zweck versuchte sich der sensible Dichter aus Wien unter anderem an der Bearbeitung eines Dramas von Calderón, aus der später „Das Salzburger Große Welttheater“ wurde. Damit hätte Max Reinhardt die Salzburger Festspiele gerne eröffnet. Weil das Stück aber nicht rechtzeitig fertig wurde, griff der Regisseur für die ersten Festspiele auf den „Jedermann“ zurück, den er bereits 1911 in Berlin zur Uraufführung gebracht hatte. So wurde am 22. August 1920 vor der grandiosen Kulisse des Salzburger Doms das „Spiel vom Sterben des reichen Mannes“ gezeigt. Auch mit dem „Jedermann“ knüpfte Hofmannsthal an die ins frühe Mittelalter zurückreichende Tradition des Mysterienspiels an. Sie ist in diesem Sommer durch die Wiederaufnahme von Händels „Il trionfo del tempo e del desinganno“ auch im Opernprogramm lebendig geworden. Und das ist ein Glücksfall für Salzburg.
Händels Werk, das 1707 in Rom uraufgeführt wurde, gehört zur Gattung des Oratoriums, das als Produkt der Gegenreformation ebenfalls auf mittelalterliche Spiele zurückgeht. Kardinal Pamphili, Absolvent des Jesuitenkollegs in Rom und Doktor der Philosophie, schrieb für den gerade einmal 21 Jahre alten Komponisten das Libretto. „Jedermann“ und „Il trionfo“ haben aber nicht nur gemeinsame Wurzeln. Auch thematisch sind sie miteinander verwandt, ist Händels Stück doch ein Spiel der Allegorien: Bellezza (Schönheit) glaubt dem Versprechen Piaceres (des Vergnügens), dass sie ewig währen werde, wird dann aber von Tempo (Zeit) und Desinganno (Erkenntnis) mit der eigenen Vergänglichkeit konfrontiert, woraufhin Bellezza ihr Leben überdenkt und neuen Werten folgt. Als die Geschichte „einer Wandlung von der Sehnsucht nach irdischen Vergnügungen hin zum Streben nach verlässlicheren Belohnungen“ fasst die Händel-Expertin Ruth Smith die Handlung bündig zusammen – und auf diesen Nenner ließe sich auch Hofmannsthals „Jedermann“ bringen. Kurzum: „Il trionfo“ passt ausgezeichnet nach Salzburg.
Das Oratorium ist von Händel nicht für eine szenische Aufführung konzipiert worden – und doch lässt es sich hervorragend auf der Opernbühne erzählen. Jedenfalls gelingt dies Robert Carsen im Haus für Mozart. Er findet schlüssige und eindringliche Bilder, um die Allegorien als handelnde Personen erscheinen zu lassen. Für die Welt der Schönheit und des Vergnügens schuf Gideon Davey (Bühne und Kostüme) ein schrilles Ambiente, das an heutige Top-Model-Events erinnert. Ständig feiern schöne junge Menschen Partys, sind auf Fashion-Shows, posieren für Selfies und setzen sich in glitzernden Roben gekonnt in Szene. Im Zentrum dieses bunten und lustigen Treibens steht natürlich Bellezza. Regula Mühlemann passt mit ihrer jugendlichen Erscheinung und ihrem hellen, jungen Sopran optisch und stimmlich ausgezeichnet in diese Rolle und lässt sich im Streben nach immer neuem Genuss nur zu gerne von Cecilia Bartoli als Piacere befeuern. Diese Piacere trägt eine burschikose Kurzhaarfrisur, enge Hosen zum roten Jackett und zieht sich bei jeder Gelegenheit die roten Lippen nach. Größer könnte der Kontrast zur priesterlich anmutenden Sphäre der Zeit und der Erkenntnis gar nicht sein. In seiner schwarzen Robe mahnt Charles Workman eindringlich mit klarem, sicher geführtem Tenor, die Vergänglichkeit alles Irdischen zu bedenken, und während er auf langem Atem die kaum endende Kette seiner Koloratur ausbreitet, beugt sich das junge Party-Volk, das eben noch ausgelassen beim Tanzen war, tiefer und tiefer, bis es schließlich, niedergerungen von der Zeit, wie tot am Boden liegt. Auch der Countertenor Lawrence Zazzo spricht als Desinganno von der Hinfälligkeit aller Schönheit, und im Zeitraffer verwelkt zu seinem „memento mori“ ein Strauß schönster Sommerblumen auf riesiger Leinwand. Eine ganz andere Position nimmt naturgemäß Piacere ein: Lascia la spina / cogli la rosa“, lass die Dornen, pflücke die Rose flüstert sie Bellezza ins Ohr, nutze den Tag, gib dich den Freuden hin. Ganz verhalten, im zarten und gerade darum besonders einschmeichelnden Piano gestaltet Cecilia Bartoli ihren Appell. Gianluca Capuano und Les Musiciens du Prince-Monaco, die sonst eher zu einem forschen und nicht immer intonationssicheren Musizieren neigen, breiten ihr dafür einen feingewobenen Klangteppich aus. Bellezza lauscht diesem Appell gebannt, und wir können vermittels einer Videoprojektion an den Gedanken teilhaben, die ihr in diesen Augenblicken durchs Gemüt ziehen: Schemenhaft zeigt sich im Hintergrund die Schönheit beim Liebesspiel mit einem entkleideten jungen Mann. Wer wollte dieser Lockung widerstehen? Und doch erscheint Bellazza am Ende geläutert. Nicht mehr „gottlose Wünsche und eitles Begehren“ sind dann in ihr, sondern ein neues Herz, il nuovo cor. Regula Mühlemann steht im schlichten weißen Kleid als eine Geläuterte auf der nun völlig nackten Bühne, singt Händels himmlische Kantilenen und tritt ab, indem sie eine Tür ins Freie öffnet. Donnernder Applaus für einen starken Opernabend mit hinreißend schönen Bildern.