Jeder kennt die Geschichte von Alice im Wunderland. Manche haben sie tatsächlich als Roman von Lewis Carroll (1865) gelesen, viele kennen die filmischen Adaptationen des Stoffes: 1951 entstand eine Zeichentrickfassung von Wilfried Jackson und Hamilton Luske, 2010 kam Alice unter der Regie von Tim Burton als 3D-Movie erneut ins Kino.
Wer in München lebt, kann diesen Klassiker der Nonsens-Literatur auf noch andere Weise erleben, ja die bayerische Landeshauptstadt hat sich in den letzten Jahren regelrecht zu einem Zentrum der Alice-Rezeption entwickelt: 2007 setzte der damalige Generalmusikdirektor Kent Nagano durch, dass die Opernfestspiele mit Unsuk Chins (ziemlich schlechter) Oper „Alice in Wonderland“ eröffnet wurden. Zehn Jahre später gab es im Residenztheater die Fassung von Christina Rast und Götz Leineweber zu erleben, und im gleichen Jahr 2017 feierte Christopher Wheeldons „Alice im Wunderland“ beim Bayerischen Staatsballett Premiere. Staatsoper, Staatsschauspiel, Staatsballett – Alice ist allgegenwärtig, und das Publikum scheint des Stoffes bislang nicht überdrüssig zu sein. Nach vierjähriger Pause ist die Produktion ist Wheeldons nun wieder im Nationaltheater zu sehen und wenn nicht ausverkauft, so doch sehr gut besucht.
Diese Ballett-Fassung, die 2011 in London uraufgeführt wurde, erinnert als Coming-of-Age-Geschichte in der Struktur von Binnen- und Rahmenhandlung ein wenig an E.T.A. Hoffmanns „Nussknacker“. Im viktorianischen Oxford wird eine Gartenparty gefeiert. Lewis Carroll ist als Mathematiklehrer und amüsanter Zauberkünstler geladen, doch es ist vor allem der Gärtnerbursche Jack, dem Alices‘ Aufmerksamkeit gehört – nicht unbedingt zur Freude der misslaunigen Frau Mama, die denn auch beim ersten sich bietenden Anlass den adretten Burschen vor die Türe setzt. Lewis Carroll tröstet das Mädchen – und nun beginnt mit einem Sturz durch einen tiefen, spiralartigen Tunnel die Fahrt ins Zauberreich. In ihm findet sich die englische Gesellschaft gespiegelt: Caroll führt als weißes Kaninchen durchs Geschehen, die garstige Mutter erscheint als Herzkönigin, die dem Herzbuben Jack nach dem Leben trachtet. Aber natürlich finden die beiden Liebenden nach Alices Reise durch eine phantastische Welt doch zueinander. Am Ende schließt Wheeldon den Rahmen so überraschend wie charmant in unserer Gegenwart: Nachdem die Herzkönigin vom Thron gestoßen wurde und Zauber-Welt wie ein Kartenspiel in sich zusammenfiel, erscheint das stattliche Herrenhaus, in dem die Geschichte begann, erneut. Aber es ist längst zur Touristenattraktion geworden. Alice und Jack besuchen es als junges Liebespaar unserer Tage in Jeans und kurzem Sommerkleid. Nur der Tourist mit Kamera, den sie um ein Foto bitten, erinnert mit seiner rötlichen Brille irritierend an einen gewissen weißen Hasen…
Dieser sehr aufwendige Ballett-Abend ist handwerklich meisterhaft gemacht. Die phantasievolle Ausstattung von Bob Crowley erschafft immer wieder erstaunliche Bilder: Die Übergänge zwischen den Realitätsebenen und einzelnen Szenen gelingen genauso wie die Fahrt auf dem Papierschiff durch idyllische Naturszenerien dank suggestiver Video-Projektionen bravourös. Besonders beeindruckt das Auftreten der Grinsekatze, deren Glieder von Tänzern immer wieder neu zusammengesetzt werden. Auch das Ohr muss keinesfalls darben: Myron Romanul und das Bayerische Staatsorchester spielen die ein wenig dick orchestrierte, stark rhythmisch akzentuierte Musik von Joby Talbot, die immer wieder originell mit Zitaten spielt und dabei auch Raum für lyrische Passagen bietet, gut abgestimmt und mit Lust an klangsinnlicher Entfaltung.
Aber natürlich ist es vor allem die Besetzung, die diese Wiederaufnahme besonders macht: Da ist zunächst Madison Young als technisch wie darstellerisch großartige Protagonistin, der man das Mädchen, das staunend und trotzig, fröhlich und bedrückt, träumend und verliebt durch die Welt stolpert, jederzeit glaubt. Als gewinnender Herzbube tanzt an ihrer Seite Jakob Feyferlik, der seit dieser Spielzeit neu im Ensemble des Staatsballetts ist. Er überzeugt in seiner Rollengestaltung und zeigt sich in den großangelegten, vom romantischen Ballett inspirierten Pas de deux als sicherer und eleganter Partner. Ein schönes Paar, – gegen das selbst die Herzkönigin, die bei der fabelhaften Elvina Ibraimova wirklich zum Fürchten ist, nichts auszurichten vermag. Und dann sind da natürlich noch Shale Wagman, der das weiße Kaninchen mit stupender Leichtigkeit darstellt, und António Casalinho, der als verrückter Hutmacher mit seinem überaus präzisen Stepptanz beeindruckt. Ein opulenter Abend. Eine große Show. Und ein echtes Vergnügen.