In extremis
Liebesgesang von Georg Friedrich Haas
Bern, 26. Juni 2024, Bernhard Metz

Georg Friedrich Haas hat mit Liebesgesang ein weiteres Auftragswerk für Bern geschaffen, anders als Sycorax 2022 ein echtes Ereignis (Uraufführung 31. Mai 2024). Man wird auf den Opernbühnen diese Saison kaum etwas Anrührenderes, Bewegenderes und Tiefergehenderes erleben können als diese gut 90-minütige Kammeroper für zwei Stimmen, die fast alle Genrekonventionen hinter sich lässt und dennoch die Essenz von Oper klar und präzise trifft. Das liegt auch an der bewährten Zusammenarbeit mit Händl Klaus, der wie zuvor für Bluthaus (2011), Thomas (2013) und Koma (2016) das Libretto schuf. Es verdankt sich aber auch der Inszenierung von Tobias Kratzers Regieteam sowie Claude Eichenberger und Robin Adam als Ausführenden.

Haas reduziert in seiner Kammeroper alles auf zwei Stimmen. Kein Orchester, nicht ein einziges Begleitinstrument, kein Chor. Auch keine stummen Rollen, Statisten, Tänzer. Die Mezzosopranistin Claude Eichenberger und der Bariton Robin Adam, Bern seit langem verbunden, loten aus, wozu die menschliche Stimme imstande ist, meistern beträchtliche vokale Spannweiten, die selbst Jauchzen, Jubeln, Juchzen bis zum Jammern, Schreien, Schluchzen, Weinen, Wimmern, Wuiseln, Zagen einschließen. Das Spektrum wird nicht nur musikalisch ausgeschritten, auch sprechtechnisch und hinsichtlich extremer Diktions- und Rezitationsfähigkeiten. Hinzu kommen wie bei Haas üblich unterschiedliche Formen mikrotonaler Expression, indem Viertel- und sogar Achtelabstände vorgegeben werden. Es ist eine freie Partitur ohne genaue Notation, lediglich die Abstände oder Intervalle der Töne zueinander sind zu wahren; Mikrotöne, unterhalb der Halbtöne; Vierteltöne oder noch kleinstufiger, Rubati und Glissandi, verbunden mit Angaben etwa zum Summen bis hin zur Atemlosigkeit, sogar mit geschlossenem Mund: „A bocca chiusa […] (vielleicht bis hin zu entmutigtem Gewimmer) […] im fest verschlossenen Mund“. Oder auch radikale Stille.

In seinem „Anforderungprofil“ schreibt der Komponist: „völlig allein mit nichts als der eigenen Stimme – das ist eine extreme Herausforderung. Es werden Fähigkeiten benötigt, die üblicherweise keine Rolle spielen. […] Die Stimmen müssen sehr robust sein. Sängerin und Sänger müssen musikalisch, mental und emotionell der Aufgabe gewachsen sein […]: gewünscht ist ein möglichst breites Repertoire an klanglichen Möglichkeiten jeder Stimme. Die beiden Stimmen sollen sich gut miteinander mischen. Hohe Textverständlichkeit. […] Beide Stimmen müssen emotional und physisch in der Lage sein, Töne im Extrembereich zu singen (Höhe und Tiefe), die u.U. nicht dem traditionellen Schönheitsideal entsprechen: dünne Pfeiftöne in der Höhe, gebrochene Klänge in der Tiefe. Der brauchbare Tonumfang beider Stimmen (auch im piano) beträgt mindestens 2 Oktaven plus grosse Sekund (z.B. FIS bis gis'')“

Zudem gibt es keine musikalische Leitung. Denn Haas fordert rigoros: „Kein Dirigat. Freiheit. Selbstverantwortung.“ Was auch die Regie-Arbeit erheblich in die Verantwortung zwingt: „Das Timing der Szene ersetzt das Dirigat. Die entsprechenden Vorgaben der Partitur (als «Licht/Szene» notiert) sind unabdingbarer Bestandteil des Werkes.“ Schauspielerisch wird den Protagonisten von Kratzer ohnehin sehr viel abverlangt.

Das Ergebnis erinnert in manchen Partien an experimentelle Hörspiele oder ans Sprechtheater seit den 1960ern, wie eine wilde Mischung etwa von Schwitters Ursonate mit Jandels frühen Lautgedichten oder den Rezitationen des späten Pastior. Auch weil nie alles zu sehen ist, was sich ereignet. In anderem ist es nah an mittlerweile klassischen modernen Opern, wie sie in der Tradition von Alban Berg oder Bernd Alois Zimmermann bekannt sind. Sogar Arvo Pärt, der viel nur für Stimme ohne Instrumente komponierte, klingt mitunter an. Die Stimmen singen nicht wirklich zusammen, sondern eher gegeneinander an, warten die Einsätze ab, verstummen, wechseln sich ab, ersticken sich mitunter aber auch gegenseitig. Traditionelle Liedführungen gibt es gar nicht, nichts Chansonhaftes oder Melodisches, nie etwas Anheimelndes oder gar Liebliches.

Liebesgesang ist hart gefügt, hat mit wohlklingenden Liebesduetten in der barocken, klassischen, gar romantischen Tradition rein gar nichts zu tun. Diese werden noch nicht mal anzitiert oder ironisch verfremdend aufgenommen, es ist durchgehend moderne Musik des 21. Jahrhunderts. Was nach sehr anstrengendem intellektuellem Pflichtprogramm und verkopfter Konzeptmusik klingt, durch die man sich eineinhalb Stunden hindurchquälen müsste, gerät in Bern zum musikalischen Ereignis. Das ist erstaunlich und ein bemerkenswertes Erlebnis. Und liegt zuvorderst an den überragenden Sängern Claude Eichenberger und Robin Adams.

Sie, anfangs nicht zu sehen und zu hören, löst sich aus der Reihenbestuhlung des Bühnenraums. Über eine Bauleiter steigt sie in den fast leergeräumten, grellweiß ausgeleuchteten Orchestergraben (Bühne und Kostüme Rainer Sellmaier, Licht Christian Aufderstroh).

Weil das Parkett gesperrt ist, verteilt sich das Publikum auf die Ränge. Wie üblich bei Kratzer sind Videoarbeiten von Manuel Braun einbezogen, die über die Monitore (natürlich auch mit den typischen reflexiven Kamerabespiegelungen) gezeigt werden und Schleifen und Loops bilden. Es sind Kontrollmonitore, kubische Röhrenfernseher, wie sie im Ausstellungs- und Bühnenbereich oder zur Übermittlung von Dirigaten gebräuchlich sind, meist schwarz-weiße Bilder. Es werden Tiere gezeigt, Tierkinder und Tierpaare, zudem Tierbauten wie Nester, Horste etc. Abrupt wird das Bild auch farbig.

Und es gibt Bauleitern, die es theoretisch sogar ermöglichen, vom Graben ins Parkett, von dort sogar zwischen den Rängen bis ganz nach oben hochzuklettern. Auch das geschieht: Luz, so heißt die Sopranistin in Liebensgesang, wird ihren Gesangspartner/Ehemann/Lebensgefährten Christian am Ende verlassen, zurücklassen. Über eine vom Parkett in den ersten Rand führende Aluminiumleiter. Schaut sich dabei nicht um, sondern verschwindet stumm. Denn Christian ist psychisch schwer erkrankt. Traurig und zugleich konsequent, es geht wohl nicht anders und ist ziemlich verstörend. Kein happy ending.

Regie, Licht und Bühne gehen bei dieser Auftragskomposition bis ins kleinste Detail zusammen. Das umgebaute Berner Kornhaustheater ist Teil der Szene. Wo sonst das Orchester sitzt, findet sich wie im Aquarium – oder besser Terrarium, Christian ist von Beruf Tierfilmer – der Schauplatz. Hölle des Alltags und der Intimität. Liebesgesang ist ein Menschenexperiment, im von der Architektin Luz stammenden Haus. Für Christian ein Gefängnis, das er nicht verlässt. Wir erfahren von Enttäuschungen, Verletzungen, aufgestauter Wut; von allem, was langjährige Paarbeziehungen begleiten kann, wenn es auch an der Oberfläche so aufgeräumt und proper aussieht wie im Hause Luz („ich habe es für mich gebaut“). Das Paar kämpft, zerrt aneinander, fesselt sich, erstickt sich fast, versucht zu tanzen, sich zu versöhnen, zu lieben, bis zur Erschöpfung.

Es ist quälerisch, wie diese Beziehung vorgeführt und seziert wird, zugleich genau das, was Oper zum Erfahrungs- und existenziellen Erlebnisraum macht, in ihren besten Momenten. Es geht um alles, immer um alles, so intensiv wie sonst wohl nur in den großen Tragödien. Luz hätte gerne Kinder gehabt, litt an Krebs, kämpfte ums eigene Überleben; auch Christian erkrankte, aber informierte sie darüber wohl nicht zureichend: „mir hast du / die krankheit / ja immer / verschwiegen / ein jahr lang / ein zweites […] schuldig / hast du dich gemacht / dich belogen / mich betrogen / hintergangen“. Vorwürfe und Selbstvorwürfe: „weil ich / nicht erkennen wollte / dass du / krank bist“.

Sie und er, Licht und Schatten, alles ist scharf kontrastiert. Luz, Licht, steht auf der hellen Seite des Lebens („du bist luz“), Christian ist ihr ausgeliefert, abhängig, von seiner psychischen Erkrankung gezeichnet. Einsam, isoliert, depressiv: „dass ich krank bin / weiss ich“. Christian ist auch Christus, der Gekreuzigte, Leidende. Die Kostüme zeigen das an: schwarze Kleidung, weiße Unterwäsche, bis auf die Unterhosen hat er sich auszuziehen, zu entblößen; Seelenstriptease. Helles Zimmer; Klinik oder Kerker: „ein helles zimmer für dich“ — Christian kann sich daran nicht erfreuen, erkennt das Ausweglose und Fatale: „das zimmer ist / tödlich / voller licht / vergiftetes licht“.

Liebesgesang kann nicht allen gefallen. Verlangt nicht nur den Ausführenden, auch seinem Publikum einiges ab. Thematisiert Extreme, die herausfordernd sind und überfordern können. Aber diese Oper wird kaum jemanden unberührt lassen. Nicht immer ist alles exakt zu verstehen, was die beiden Sänger äußern, auf den Monitoren laufen keine Textuntertitelungen mit. Das verstärkt aber noch den effet de réel, den Eindruck, einer Szene beizuwohnen, für die es gar kein anderes Publikum geben kann als dieses Paar selbst. Alles wird zum Erfahrungsraum, neu, anders. Nicht wie bei altbekannten und vielfach wiederholten Repertoirestücken, die kaum mehr unschuldig und naiv zu erleben sind. Und nicht berühren. Was so vertraut und banal daherkommt, das Haus der Architektin, die typischen Konfliktmuster, scheiternde Kommunikation, Erschöpfung und Müdigkeit, wird erhöht zum existentiell Bedeutsamen. Diese Zurschaustellung des Alltäglichen, Belanglosen und zugleich Schrecklichen und Wichtigen gerät an den Bühnen Bern eindrücklich und ist als eine in allem konsistente Kollaborationsleistung absolut überzeugend.