Jauchzende Körper
John Neumeiers „Dona nobis pacem“ in Hamburg
Hamburg, 4. Januar 2023, Michael Bordt SJ

„‚Dona nobis pacem‘. Choreografische Episoden inspiriert von Johann Sebastian Bachs Messe in h-Moll“ heißt die großartige Neuschöpfung, mit der der Choreograf John Neumeier seine 50. und letzte Spielzeit an der Hamburgischen Staatsoper krönt. Ein gewaltigeres Werk hätte er sich dafür kaum vornehmen können, und allein der Mut, eine Choreografie dieser zweistündigen Messe zu entwerfen, verdient Respekt.

Dass Neumeier sein vermutlich letztes großes Werk für Hamburg nur ‚Episoden‘ nennt, ist keine falsche Bescheidenheit, sondern beschreibt den Stil seiner Choreografie recht treffend. Es gibt keine klare Handlung, auch wenn Handlungsstränge angedeutet, aber nicht ausgeführt werden. Da gibt es Soldaten, die fliehen und erschöpft zusammenbrechen. Es gibt einen Kriegsfotografen, der einzelne Gesten, eine Handbewegung, ein Gesichtsausdruck mit der Kamera einfangen möchte. Es gibt einen „ER“, die Hauptperson im Stück, getanzt von dem an Ausdrucksstärke und Brillanz alles überragenden Aleix Martinez, der mit einem Koffer unterwegs ist, in dem sich Fotografien von Menschen befinden, die offenbar verschollen sind und die er finden möchte. Es gibt eine Gruppe von Engeln in weißen Gewändern, die in einer Episode mit den Soldaten tanzen, als seien sie ihre Schutzengel. Es gibt schwarzgekleidete Witwen, eine Gemeinde – aber es wird keine Geschichte erzählt. Der musikalische Ausdruck der Musik wird auch nicht einfach in choreografischen Gesten umgesetzt; so können musikalisch sehr lebendige Stücke mit einer sehr ruhigen Choreografie kontrastiert werden. In anderen Episoden bersten die Tänzerinnen und Tänzer geradezu vor Lebensfreude, als könnten ihre Körper den Jubel gar nicht stark genug ausdrücken. Immer wieder werfen sie sich zu Boden, um im nächsten Moment wieder aufzuspringen – und man sieht: Kraft und Energie dieses Ensembles suchen ihresgleichen. Technisch gehört das Hamburg Ballett zur absoluten Weltklasse, das macht auch dieser Abend beeindruckend klar.

Nicht alle Episoden haben mich indes gleichermaßen überzeugt. Manche sind überladen, so dass man gar nicht weiß, wo man hinschauen soll, um nichts zu verpassen. Andererseits: Vor allem bei der Choreografie des ‚Sanctus‘ und ‚Benedictus‘ scheinen Neumeier ein wenig die Ideen ausgegangen zu sein. Und es gibt Episoden, die knapp am Kitsch vorbeischrammen. So wenn der Fotograf, von Lennard Giesenberg getanzt und gesprochen, Teile des Textes von ‚Imagine‘ von John Lennon rezitiert (und prompt den einzigen Szenenapplaus des Abends dafür bekommt); oder wenn er ein Gedicht von Günter Kunert über Hiroshima rezitiert und Allesandro Frola dann hinter einem Gaze-Vorhang, auf den Atompilze projiziert werden, furios und ausdrucksstark tanzt. Interessant macht diese Episode allerdings, dass sie ausgerechnet zur Bassarie ‚Quoniam tu solus sanctus‘ choreografiert ist. Wie dem auch sei: Gerade weil die Choreografie in den übrigen Episoden eine klare Interpretation verweigert und eher assoziative Räume öffnet, wirkt diese plakative Deutlichkeit ganz fehl am Platz.

Musikalisch hat mich vor allem der Chor, das Vocalensemble Rastatt, überzeugt. Die Sängerinnen und Sänger bilden einen homogenen, starken, transparenten Klang. Das Originalklangensemble Resonanz unter der Leitung von Holger Speck begleitet angemessen. Ein Wermutstropfen gab es allerdings schon: Die Leistung der Solistinnen und Solisten war sehr uneinheitlich. Die Sopranstimmen von Marie Sophie Pollak und Sophie Harmsen waren wunderbar klar und sicher geführt, der Altus von Benno Schachtner dagegen klang in den Höhen eng und unangenehm grell, Tilman Lichdi hatte mit der Intonation zu kämpfen und den Bass von Konstantin Ingenpass hätte ich mir doch deutlich kräftiger gewünscht. Heftiger Jubel für einen sehr beeindruckenden Abend.