Premiere feierte John Crankos inzwischen zum Klassiker gewordenes Handlungsballett 1965 in Stuttgart. Nicht nur dort konnte es sich bis heute auf dem Spielplan halten. In Wien war nun die 54. Vorstellung zu erleben, und die psychologisch fein gezeichnete Choreographie Crankos überzeugt noch immer.
Hyo-Jung Kang und Aleksandra Liashenko, beide seit dieser Spielzeit als erste Solistinnen in Wien engagiert, gelang es, die Portraits zweier Freundinnen zu zeichnen, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Verträumt und zart Tatjana, lebenslustig und zupackend Olga. Die erfreut sich an der Schönheit des Lebens, ja sie bildet ihren Mittelpunkt. Grazile Mädchen in zartfarbenen Kostümen und schneidige, stets zu Scherzen geneigte Burschen amüsieren sich in der ländlichen Szenerie (Bühne und Kostüme: Elisabeth Dalton) von Larinas Garten im ersten Akt. Das Corps de ballet gestaltet ihn mit jugendlicher Verve. Tatjana entzieht sich dem munteren Treiben. Sie flüchtet sich in die Welt der Literatur. Bis Onegin in ihren Blick gerät. Er flirtet mit ihr, fordert sie zum Tanz, ist aber doch nicht bei der Sache. Die endlosen Pirouetten, die er dreht, lassen ahnen, dass sein Leben buchstäblich nur um die eigene Person kreist. Dieser blasierte Mann ist sich selbst genug. Jason Reilly, langjähriger Solist in Stuttgart, war als herausragender, technisch und darstellerisch erstklassiger Gast mit dieser Partie in Wien zu erleben. Tatjana verliebt sich rettungslos in diesen Onegin, der doch an ihr wie überhaupt an einer Beziehung kein Interesse hat. Die Gefühle, Wünsche und Sehnsüchte Tatjanas werden in der zentralen Briefszene anschaulich, die den beiden Protagonisten eindringlich gelang. Was sich im Inneren Tatjanas zuträgt, findet bei Cranko als Traumvision tänzerischen Ausdruck: Onegin betritt in dieser phantastischen Sequenz durch den Spiegel das Schlafgemach Tatjanas. So beglückend diese gewaltige, im Traum erfahrene Erfüllung ist, so schmerzlich ist der Absturz in die tiefen der rauen Wirklichkeit. Onegin weist den Brief, in dem sie ihm ihr Innerstes enthüllt, zurück, zerfetzt ihn grausam vor ihren Augen. Und um auch den letzten Funken Hoffnung auszutreten, der allenfalls im Herzen seiner so zarten wie zähen Verehrerin glimmen könnte, wendet er sich überdies Olga zu, die sich nur zu gerne auf den Flirt einlässt. Freilich kränkt sie damit ihren Verlobten Lenski derart, dass dieser seinem alten Freund Onegin in Verkennung der Lage als Forderung zum Duell wutschnaubend den Handschuh ins Gesicht schlägt. Denys Cherevychko mag der sozusagen eher lyrischen Rolle des Lenski inzwischen entwachsen sein, tanzt den Part aber noch immer souverän. Es kommt, wie es kommen muss: Im Duell fällt der unglückliche Lenski. Jahre vergehen, bis Tatjana und Onegin sich wiedersehen. Das Mädchen ist inzwischen zur Frau herangereift. Ihre Ehe mit Fürst Gremin ist nicht von Leidenschaft, aber von stabiler Zuneigung getragen. Das vermitteln Hyo-Jung Kang und Igor Miles als Gremin bei ihrem großen Pas de deux im dritten Akt sehr deutlich. Verändert hat sich indes nicht nur Tatjana. Auch Onegin ist nicht mehr der Alte. Aus dem selbstherrlichen Burschen von einst ist ein unbehauster Mann geworden, nicht weit vom Hagestolz entfernt. Reilly und Kang gelingt es, die Wandlung ihrer Figuren zu vermitteln. Ihre letzte Begegnung ist der dramatische Höhepunkt des Abends. Die Rollenverteilung hat sich verkehrt: Onegin ist der Werbende, und er wirbt mit allen ihm zu Gebote stehenden Kräften um die einst Verschmähte. Nur unter größter Willensanstrengung gelingt es Tatjana, ihm schließlich mit herrisch erhobenem Arm die Tür zu weisen. Verzweifelt stürzt Onegin davon. In einem Zustand völliger seelischer Auflösung bleibt sie zurück. Das Orchester der Staatsoper, das unter der Leitung von Johannes Witt anfangs noch etwas müde-routiniert wirkte, findet zu dramatischer Wucht und rauscht gewaltig auf. Der Vorhang fällt. Großer Applaus für einen sehenswerten Ballett-Abend an der Wiener Staatsoper.